1965 starb im Alter von 45 Jahren Hans Gugelot. Das sind 19 Jahre her – eine lange Zeit für einen, der so wenig erinnerungsbegabt ist wie ich.
lch sitze in einem Sessel von ihm, den er einmal für die Firma Bofinger gemacht hat (und den es leider nicht mehr gibt). lch mag diese Sessel – nicht nur weil ihn Hans Gugelot gemacht hat, sondern auch, weil er so viel von ihm ausstrahlt. Er ist so wenig »sesselig«, fast ein Sesselstuhl – leicht und trotzdem stabil. Er macht sich nicht breit (wie das Sessel so an sich haben), sondern läßt Luft um sich, ist unambitiös, einfach und ehrlich. Er ist von einer zurückhaltenden, fast vornehmen Eleganz und mit seiner beweglichen Rückenlehne trotzdem bequem.
Darin sitze ich also – ein leeres weißes Papier vor mir. Es bleibt lange leer, denn ich frage mich: Wer und wie war Hans Gugelot? Weiß ich es?
Eines weiß ich: was er für die Firma – die damalige Max Braun OHG - bewirkt und bedeutet hat. Und das war viel und sehr entscheidend. Nicht nur für die Firma – sondern auch für mich persönlich. Mit dem Versuch, mich an Hans Gugelot zu erinnern, steigt automatisch die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit auf. lch kann beides nicht voneinander trennen.
Wie war das eigentlich damals 1953, als ich wieder mit Erwin Braun zusammenkam – den ich im Krieg als neunzehnjährigen Soldaten kennengelernt hatte, und mit dem mich seitdem ein freundschaftliches Gefühl verband?
lch kam aus einer anderen Welt – aus der Welt des Theaters und Films (in der ich als Regisseur und Bühnenbildner tätig gewesen war) – einer Welt also, die der Industrie eher skeptisch und feindlich gegenüberstand.
Da waren: Erwin Braun (30 Jahre) und sein Bruder Artur Braun (26 Jahre). Beide hatten 1951 beim plötzlichen Tod ihres Vaters Max Braun die Firma übernommen – eine Firma, die dank der hohen unternehmerischen Fähigkeiten dieses Vaters auf soliden Beinen stand. 1953 stellte sie Radio- und Phonogeräte, Küchengeräte und gerade die ersten Elektrorasierer her. Ein hetoregenes Geräteprogramm also, das sich in seinem Äußeren kaum von der Konkurrenz unterschied . Es hatte ein Dutzendgesicht, ein Gesicht ohne eigenen Charakter. Erwin Braun – angeregt und stimuliert durch Wilhelm Wagenfeld – suchte ab 1954 nach einem neuen Weg – einem eigenen Weg.
lch erinnere mich an all die Fragen, die damals in ihm brodelten und kochten (und die ich, soweit ich dazu in der Lage war, versuchte am Kochen zu erhalten). Vielfältige und komplexe Fragen, die sich bei ihm immer mehr zu einem unternehmerischen Gesamtkonzept verdichteten und die letzten Endes (um es sehr vereinfacht auszudrücken) in der einen Frage mündeten: Kann man auch mit mehr Ehrlichkeit und Menschlichkeit einen geschäftlichen Erfolg machen? Eine sehr schwergewichtige Frage also, die erst zu beantworten war, wenn sich jemand fand, einen solchen Weg zu beschreiten. Am deutlichsten war die Diskrepanz von Wollen und Realität bei den Radiogeräten. Sie schrieen geradezu danach, von ihrer goldprotzenden Verlogenheit befreit zu werden. Aber von wem?
Eine eigene Gestaltungsabteilung im Hause Braun gab es noch nicht. Wir hörten von der Hochschule für Gestaltung in Ulm, deren Gebäude gerade errichtet wurden. Erwin Braun fuhr hin. Wir lernten Inge und Otl Aicher kennen - und Hans Gugelot. Was wir sahen und hörten, entsprach mehr als erwartet dem, was Erwin Braun wollte.
Hans Gugelot erhielt einen Auftrag, die Braun-Radiogeräte neu zu gestalten. lch erinnere mich an seinen ersten Auftritt in Frankfurt. Er brachte – geheimnisvoll mit einem weißen Tuch verdeckt – das erste Modell für ein zukünftiges Radiogerät mit. Eine Art Denkmalsenthüllung fand statt. Da stand das Ding: eine einfache viereckige Holzkiste – auf der Vorderseite eine schwarze Kreisfläche und ein Rechteck – das war alles. Und da standen drei Herren der lndustrie (und ich) und schauten das Ding an. Hans Gugelot, stämmig, in sportlicher Lederjacke, statt eines Schlipses einen dicken wollenen Schal um den Hals (obwohl es im Zimmer recht warm war), schaute seinerseits diese Herren erwartungsvoll, skeptisch, fast ein wenig arrogant an. Pause: ein Engel ging durchs Zimmer. Er hielt ihn sicher für einen maskierten Teufel, der das Wunderding aus Ulm gleich mit einem Knall in die Luft sprengen würde.
Später gestand er mir, dass er diese Vorführung als eine Art Test in Szene gesetzt hatte, um zu provozieren. Er wollte wissen, ob die Leute von Braun auch zu der Sorte von lndustriellen gehörten, die es nur einmal mit der sogenannten Moderne versuchen wollten.
Als er merkte, dass es ihnen ernst war - ja, dass sie sogar bereit waren, diesen nackten, aus einer Matrix entsprungenen Rohentwurf eines Radiogerätes zur Realität werden zu lassen, da wurden für ihn aus den Herren der lndustrie Menschen. Mit seinem dicken wollenen Schal legte er die Skepsis ab, wurde zum Mitverschwörer und ging an die Arbeit. Es begann eine verrückte Zeit – für ihn und für die Leute von Braun. Denn in ein paar Monaten sollte das gesamte RadioPhono-Fernsehprogramm auf der Funkausstellung 1955 in Düsseldorf ein völlig neues Gesicht zeigen. Man fuhr zweigleisig. Im Hause entwickelte man eine Linie mehr konventioneller Art, die aber auf Entwicklungen aus Ulm – wie Skalen und Bedienungselemente – zurückgriff. Für Hans Gugelot war es eine schwierige Aufgabenstellung. Sie widersprach eigentlich seinen Vorstellungen von Design, wonach sich Technik und Form von Anfang an systematisch und organisch miteinander entwickeln müssen, um zu einem überzeugenden und stimmigen Äußeren zu kommen. Er konnte nicht vom Nullpunkt ausgehend etwas Neues gestalten – er war gezwungen, etwas zu tun, was er im Grunde ablehnte: eine äußere Form um eine bereits vorhandene und fixierte Technik zu machen.
Er musste dabei mit Technikern zusammenarbeiten, die ihn nicht verstanden, die das, was da entstand, mit Misstrauen und Angst betrachteten. Es ist sicher das Verdienst von Artur Braun, dem Techniker, der mit Überzeugung und Engagement hinter diesem Abenteuer stand, dass alle diese Geräte ohne jeden Kompromiss realisiert werden konnten.
Da standen sie eines Tages: die RadioPhono-Kombination PKG (der »lange Heinrich« mit drei verschiedenen Untergestellen); ein neuer Tischsuper (in zwei verschiedenen Ausführungen); ein Plattenspieler und ein Fernseher in lichtem Ahorn – leicht und präzise wirkende Einzelgeräte, die dennoch eine Familie bildeten. Denn Hans Gugelot war es gelungen (gewissermassen vom falschen Ende her), Geräte zu entwickeln, die in Maß und Form aufeinander abgestimmt waren, die sich auf- oder nebeneinander zu einem harmonischen Ganzen anordnen ließen. Es waren die ersten kombinierbaren Radiogeräte, die es auf dem Markt gab – etwas völlig Neues – echte Gugelots. Die Geräte, die in der Firma entwickelt worden waren, nahmen sich dagegen zwar anständig, aber doch bieder-treuherzig aus. (Sie erhielten erst später durch Herbert Hirche ein adäquates Niveau). Dazu kam Otl Aicher.
Es war klar, dass diese Geräte in dem Riesenpotpourri von spekulativer Verlogenheit einen Raum und Rahmen brauchten, in dem sie atmen und wirken konnten. Otl Aicher entwickelte aus dem gleichen Geist ein völlig neues Ausstellungssystem (ein System, das auch heute noch das Bild sehr vieler Messestände bestimmt). Und er schuf alle die kommunikativen Mittel, die dazu gehörten. So wurde es eine Sache aus einem Guss, die sich da 1955 in Düsseldorf präsentierte. Die Wirkung ist bekannt. Sie war sensationelI.
Das, was damals geschah, war entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Firma Braun; denn da stand ein reales, greifbares Modell, das alle die Fragen von Erwin Braun beantwortete und das zeigte, dass es und wie es geht.
Es bestimmte auch meine weitere Zukunft. lch war in den Sog der ldeen und Absichten von Erwin Braun geraten – ich hatte mitgeredet und mitgewirkt, soweit ich es konnte, aber ich dachte damals noch nicht daran, dass ich eines Tages endgültig in der lndustrie landen könnte.
Im Frühjahr 1955 – mitten im Trubel – erhielt ich ein Angebot, die Regie eines Films zu übernehmen. lch musste mich entscheiden. lch entschied mich für Braun, weil ich es für sinnvoller hielt zu helfen, anständige Geräte zu machen, als fragwürdige deutsche Filme (denn die, die ich gerne gemacht hätte, waren damals noch nicht möglich).
So wurde ich ein »Mann der lndustrie« und Leiter der Gestaltung bei Braun. Wäre ich es geworden, wenn ich nicht Hans Gugelot und Otl Aicher kennengelernt hätte? lch glaube nein. Denn ohne ihre Freundschaft und Hilfe hätte ich dillettieren müssen.
Obwohl ich ein ganzes Stück älter war als sie, war ich ihr Schüler (und sie waren feinfühlig genug, es mich nicht merken zu lassen). Sie gaben Erwin und Artur Braun und mir über ihr realisiertes Düsseldorfer Modell hinaus Anregungen_und lehrten uns Methoden, auf denen wir aufbauen und weiterarbeiten konnten. Und sie halfen uns – mit Rat und Tat – eigene Gestaltungsabteilungen im Hause aufzubauen (obwohl ihnen bewusst sein musste, dass dies eine Konkurrenz für ihre eigene Arbeit bedeuten würde).
Hans Gugelot war es, der mit sicherem lnstinkt auf die besondere Begabung von Dieter Rams hinwies, der sich damals unter mehreren anderen um eine Anstellung als lnnenarchitekt bei Braun beworben hatte. lch bin überzeugt davon, dass die Leistungen von Dieter Rams und von all den anderen Gestaltungsleuten bei Braun in den vielen Jahren danach nur auf dem Boden entstehen und sich entfalten konnten, den Hans Gugelot und Otl Aicher damals bereitet haben.
Noch im Sessel von Hans Gugelot sitzend (er ist wirklich gutes Design: die schwenkbare Lehne schmiegt sich einem inzwischen doch schon reichlich älter gewordenen Kreuz wohltuend an) denke ich an die Hochschule für Gestaltung in Ulm.
Hans Gugelot und Otl Aicher waren dort Lehrer. Für mich waren sie die Hochschule für Gestaltung. Mit ihrer Tätigkeit und ihren Methoden hat die Schule den sichtbarsten und überzeugendsten Ausdruck für ihre besondere und lebendige Qualität gefunden. Die Hochschule für Gestaltung in Ulm existiert nicht mehr. Sie starb keinen sehr rühmlichen Tod.
Das Einmalige und Besondere an ihr verschwindet immer mehr im grauen Nebel. Sogar Feindbilder entstehen. Mit undifferenzierten, vagen Begriffen, wie: funktionalistisch, puristisch, blutleer, ideologisch, und was weiß ich noch, wird eine Fassade aufgebaut, vor der man glaubt, sich mit noch vageren, rein emotional eingefärbten Begriffen wirkungsvoller in Szene setzen zu können.
In mir steigt die Befürchtung auf, dass sich womöglich einer Hans Gugelot als einen blutleeren Theoretiker mit viereckigem, grau gerastertem Kopf vorstellen konnte. War er das? Er war das Gegenteil: er war offen, lebendig und vital. lch sehe ihn noch, wie er elegant und schmalspurig vor Erwin Braun und mir auf Skiern einen Steilhang hinunterschwingt (und wir beide wohlweislich darauf verzichteten, es ihm gleichtun zu wollen).
lch sitze wieder neben ihm im Auto und halte den Atem an, weil er in einem viel zu schwachen und einfachen Wagen kühne Oberhol- und Einschwenkmanöver macht - genussvoll grinsend: ein verhinderter Autorennfahrer. lch schleppe mich wieder - sehr spät nachts - in Paris (irgendwo in der Nähe des Montmartre) hinter einem unerbittlich neugierigen Hans Gugelot her mit dem Wunsch in Kopf und Beinen: hoffentlich wird der Kerl bald müde.
Und ich erinnere mich wieder an die große Reise mit ihm, die Erwin Braun inszeniert hatte, um reale Beispiele und Modelle zu sehen die Anregung und Bestätigung sein konnten. Sie führte über Los Angeles, San Francisco, Chicago und New York nach ltalien - zu Olivetti. Hans Gugelot war bei alledem: Freund, Türöffner, Führer und Mentor.
Er war kein abstrakter Theoretiker, sondern ein Realist und Praktiker - ein Praktiker mit einem breiten theoretischen Fundament, der in systematischen Zusammenhängen dachte, ein Designer, dem es zunächst nicht auf die äußere Form ankam, sondern den erst einmal die Voraussetzungen interessierten, die zu einer notwendigen und dadurch zu einer stimmigen Form führen konnten.
Er hatte immer Papier bei sich (meist mit quadratischem Linienraster). Wo es nur ging, zog er es irgendwo hervor und fing an zu zeichnen - keine rein formalen Entwürfe, sondern kleinformatige Konstruktionszeichnungen, an denen er genussvoll-vergrübelt herumbastelte. Er besaß ein großartig ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen (er konnte z.B. Texte auf dem Kopf stehend in Spiegelschrift schreiben). Im Grunde war er auch ein vortrefflicher (und deswegen wohl um so engagierterer) Konstrukteur. Ein Konstrukteur und ein Designer mit großer Sensibilität für das Echte - eine ideale Mischung.
Bei dem Blick zurück zu ihm wird mir immer klarer, was er für Braun und mich bedeutet hat. Hinter allem, was ich selbst in den vielen Jahren danach bei Braun tun und bewirken konnte als – ja als was eigentlich? – als Gestalter, Erzieher, Anreger, Verhinderer, Feuerwehr, Beichtvater? – stand – gewissermaßen als Maßstab – immer die Frage: was sagen Hans Gugelot und Otl Aicher dazu?
Das ist auch heute noch so. Wen wundert es also, dass mich - der ich immer noch im Sessel von Hans Gugelot sitze – bei dem hilflosen Versuch, ihn wieder lebendig werden zu lassen, ein großes Gefühl der Dankbarkeit überkommt?
Quelle:
Eichler, F.: Realisationen am Beispiel Braun AG. In: Wichmann, H. (Hrsg.): System-Design. Bahnbrecher: Hans Gugelot, München 1984,
22-26 und Eichler, F.: Realisationen am Beispiel Braun AG, bewahrt im Archiv von Artur Braun, Königstein/Ts., Ordner: Braun Personen, Abteilung 1 Fritz Eichler