Hartmut Jatzke-Wigand
 
Fritz Eichler: Brief an Wagenfeld

Fritz Eichler

Eichler an Wagenfeld


Motto:

"Wofür arbeitet ihr? Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern."
Aus Bert Brecht "Leben des Gallilei"

 

Dr. Fritz Eichler, Aufsichtsratmitglied der Braun AG, hat gemeinsam gerade mit Erwin Braun dem Unternehmen das heutige unverwechselbare Gesicht gegeben. Auch beide sind mit Wagenfeld befreundet. Aus dieser Verbundenheit heraus schreibt Eichler an Wagenfeld über Braun

 

Lieber Wagenfeld,

 

haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen keinen Artikel schicke, den andere viel besser schreiben können, sondern Zuflucht zu diesem Brief nehme, der vielleicht mehr Fragen enthalten wird als Antworten. Das hat zwei Gründe. Erstens ist es schwierig, über eine Sache zu schreiben, an der man selbst beteiligt ist, und zweitens glaube ich, Ihre Erwartungen zu kennen. Sie sind hoch. Sie sagten einmal, was bei Braun auf dem Gebiet der Gestaltung (im weitesten Sinne) geleistet worden sei, das sei ein Muster. So etwas zu hören tut gut. Aber es hat auch seine Gefahren. Man wird leicht zum Musterknaben und kommt dann nur allzu leicht in Gefahr, sich unbeliebt zu machen.

 

Gibt es überhaupt reale Muster, die ihrem Anspruch gerecht werden können, d.h. übertragbar sind? Ich glaube - nein, oder doch nur sehr bedingt. Es gibt eine Menge theoretische Muster - gute, halbgute und schlechte. Ich denke an all die Artikel, die über Formgestaltung geschrieben wurden, an all die Vorträge und Diskussionen und an ihre Ergebnisse. Ich halte sie (die guten wenigstens) für sinnvoll und wichtig. Aber jch frage mich oft: was bewirken sie (ganz abgesehen davon, dass die, die sie lesen, es meistens schon wissen, und die, die es wissen sollten, sie kaum lesen)?

 

Um gleich mit zwei Fragen zu beginnen, Fragen, die ja immer wieder im Mittelpunkt all der Bemühungen und Diskussionen um gute Produktgestaltung stehen:

 

Frage 1 - Was ist überhaupt gute Produktgestaltung?
Es gibt gescheite und tiefsinnige Antworten darauf; es gibt ästhetische Katechismen - ja, es gibt Thesen zur Beurteilung, die, selbst von Fachleuten und Fachbeflissenen angewandt, nur allzu oft zu widersprechenden Beurteilungen führen. Ich kann zu dieser Frage höchstens sagen, was ich für gute Produktgestaltung halte (unter anderem das, was wir versuchen und nicht immer erreichen).

 

'Frage 2 - Welches sind die Voraussetzungen für gute Produktgestaltung und wie entsteht sie?
Auch hier gibt es viele grundsätzliche Untersuchungen und komplexe Analysen, die all die vielen Blickpunkte berücksichtigen, die zum Thema gehören: neben den gestalterischen die unternehmerischen und wirtschaftlichen, die organisatorischen und technischen mitsamt den soziologischen und kulturellen. Sicher - sie tragen zur Klärung bei, aber ich habe den Eindruck, dass sie in dem hohen, totalen Anspruch, den sie oft stellen, es geradezu verhindern, dass der reale Ansatzpunkt gefunden wird, damit überhaupt etwas entsteht. Sie bleiben theoretisch, weil sie gerade die nächstliegenden Faktoren - oft sind es "simple" menschliche Probleme - nicht berücksichtigen, die in der Realität eine bestimmende - ja manchmal entscheidende Rolle spielen.

 

Das Hauptproblem ist und bleibt: wie ist es möglich, dass gute Produktgestaltung überhaupt gemacht werden kann und darf?

Kleine ketzerische Anmerkung in Frageform dazu: Wenn wir alles das gewusst hätten damals, als wir auf die Idee kamen, unsere Geräte neu zu gestalten, hätten wir dann noch die Unvoreingenommenheit und den Mut gehabt, überhaupt anzufangen?

 

Unser Anfang war unkomplizierter, ich möchte fast sagen natürlicher. Er wurde stark von persönlichen Antrieben bestimmt, und sicher war entscheidend, dass diese Antriebe von der Unternehmensspitze ausgingen. Jetzt ist es bald zehn Jahre her, daß die Firma Braun anfing, ihren Produkten ein neues Gesicht zu geben.

 

Der Ausgangspunkt war ein Programm von vier Erzeugnisgruppen:
Rundfunkgeräte, Küchenmaschinen, Elektrorasierer und fototechnische Geräte. Das Gesicht dieser Geräte unterschied sich in nichts von dem der üblichen Konkurrenzgeräte - es war ein Dutzendgesicht, teils anständig und bieder, aber langweilig, teils aufdringlich und spekulativ verlogen. Wir fanden, es war ein Gesicht, das nicht dem Inneren der Geräte entsprach. Wir machten technische Geräte - Hilfskräfte für Haushalt und Liebhaberei - Geräte, die in erster Linie eine Funktion für den Menschen zu erfüllen haben und die ihren Sinn erst bekommen, wenn sie in unmittelbarem Bezug zu ihm und seiner engeren Umwelt stehen.

 

Wir stellten uns diese Menschen sympathisch vor, intelligent und natürlich, mit Gefühl für Echtheit und Qualität. Menschen also, deren Wohnung keine Bühnendekoration für unerüllte Wunschträume darstellt, sondern einfach ist, geschmackvoll, praktisch und sogar gemütlich.
Dementsprechend sollten unsere Geräte sein und aussehen. Nicht Geräte fürs Schaufenster gemacht, um sich dort in summierter Aufdringlichkeit besonders hervorzutun, sondern Geräte, mit denen man auch länger zusammen leben kann. Erwin Braun hat es einmal so formuliert:
„Unsere elektrischen Geräte sollen unaufdringliche, stille Helfer und Diener sein. Sie sollten eigentlich verschwinden, so wie das gute Diener in früheren Zeiten auch immer gemacht haben. Man hat sie nicht bemerkt."

 

Die Radiogeräte entsprachen am wenigsten diesen Vorstellungen. Deshalb fingen wir bei ihnen an - sozusagen am Nullpunkt. Es gab Richtpunkte. Wir kannten die Bestrebungen des Bauhauses; es gab das Beispiel Olivetti; den Stuhl von Charles Eames; einen Vortrag von Wagenfeld; die Leica; Knoll International und gute Schweizer Grafik.

 

Aber wir kannten keine Muster, wie gut gestaltete Radios aussehen könnten. Das Radio hatte mehr als andere technische Geräte im Haushalt seinen eigentlichen funktionsgebundenen Charakter verloren - es war zum Tonmöbel geworden, bei dem dem repräsentativen Geltungsnutzen oft größere Bedeutung zukam als dem guten und richtigen Ton. Es lag eine gewisse Konsequenz darin: ein aufgeweichter Plüschton entsprach dem aufgeblähten Äußeren der Geräte. Wir versuchten, Aussehen und Ton zu ändern: ein klarer, möglichst natürlicher Ton - ein dementsprechendes Aussehen. Nicht nur durch Marktuntersuchungen wussten wir, daß ein echter, wenn auch kleiner Bedarf dafür vorhanden war; wir hatten Freunde, die ihre Radios einbauten und hinter Gittern versteckten, um nur noch akustisch mit ihnen zu tun zu haben.

 

Die neuen Radiogeräte sollten sich in guten, modernen Wohnungen auch sehen lassen können; sie sollten sich dort wohltuend und selbstverständlich einfügen.

 

Wir gingen mit unseren eigenen, zunächst geringen Kräften an die Arbeit und suchten Hilfe von außen. Wir fanden Freunde an der Hochschule für Gestaltung in Ulm - Hans Gugelot für die Produktgestaltung, Otl Aicher für informative Gestaltung. Sie schufen nicht nur reale Muster, die als Ausgangspunkt für unsere zukünftige Entwicklung wesentlich waren; sie gaben uns darüber hinaus Methoden und Anregungen, die unsere weitere Arbeit bestimmen sollten. Schließlich fanden wir als weiteren Mitarbeiter Herbert Hirche. In nicht ganz einem Jahr hatte das gesamte Programm ein neues Gesicht, vom kleinen Kofferradio bis zum sogenannten Musikschrank. Mit den Erfahrungen, die wir bei den Radiogeräten gemacht hatten, gingen wir daran, unser gesamtes Geräteprogramm neu zu gestalten. Es war ein langer, erfahrungsreicher Weg, der zu den Produkten führte, die Sie im nebenstehenden Familienbild des heutigen Programms sehen können.

 

Die Realisation dieser Geräte setzte eine eigene Abteilung für Produktgestaltung voraus. Das Bild kann in seiner etwas wahllosen Gruppierung deutIich machen, wie vielfältig und verschiedenartig die Aufgaben sind, die sie zu lösen hat. Verschiedenartig in der Aufgabenstellung, in den Techniken und MateriaIien, verschiedenartig auch durch die Marktsituation der einzelnen Geräte, die die Produktgestaltung oft mehr bestimmen kann, als einem lieb ist. Eine Familienähnlichkeit der einzelnen Geräte ist sicher nicht zu verleugnen. Ist sie zufällig oder ist sie bewusster Stil? In Industrie und Handel wird des öfteren von einem Braun-Stil gesprochen. Gibt es ihn überhaupt? In einer umfangreichen und sorgfältigen Untersuchung hat Richard Moss in der Zeitschrift "lndustrial Design" an Hand unserer Geräte versucht, den "Braun-StiI" zu analysieren. Er schreibt: "Man hat den Eindruck, dass jedes Braun-Erzeugnis ganz streng im Einklang mit gewissen Regeln gestaltet ist - nicht etwa nach den Regeln eines Normenbuches, sondern gemäß den Gesetzen einer Gestaltungsethik. Jeder Entwurf aus dem Hause Braun scheint drei allgemein gültigen Gesetzen zu unterliegen: dem Gesetz der Ordnung, dem Gesetz der Harmonie und dem Gesetz der Sparsamkeit", wobei er unter Sparsamkeit die Schaffung einer harmonischen Form mit den geringsten und einfachsten Mitteln versteht.

 

Drei Gesetze, die wir als Grundlage für unsere Produktgestaltung gern bejahen. "Gestaltungsethik"? Ein zu großartiges und anspruchsvolles Wort für eine natürliche Sache. Wir wissen nicht, wie unsere Geräte von morgen aussehen werden. Wenn sie denen von heute gleichen sollten, dann ganz sicher nicht, weil bestimmte stilistische Absichten - womöglich weltanschaulich fundiert - dahinterstehen; sondern weiI sie von einer Gruppe von Menschen gemacht wurden, die nach gleichen Erfahrungen und Methoden arbeiten, und die sich zusammengefunden haben, weil sie ähnliche Auffassungen und einen ähnlichen Geschmack haben. Ich weiß, Geschmack ist ein Begriff, den man in diesem Zusammenhang nicht vorsichtig genug benutzen kann - und doch bestimmt er in der Realität weitgehend, im Positiven wie im Negativen, die Produktgestaltung.

 

In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Funktion: "Funktion", "funktionsgerecht", "funktionsbewußt", "funktionaIistisch", alles Worte, mit denen heute gern geistige Equilibristik getrieben wird - meistens mit dem Tenor: das alles ist überholt, wir brauchen was Neues. Wir? Nein - was schlimmer ist - die Menschheit.

 

Wir machen technische Geräte, die für den Menschen oder sogar im unmittelbaren Zusammenhang mit ihm Funktionen zu erfüllen haben. Ich kann mir bei allem Bemühen nicht vorstellen, dass sich Geräte, besonders technische, entwickeln lassen, bei denen die Funktion nicht Ausgangs- und auch Zielpunkt für die konstruktive und die formale Gestaltung ist. Das ist seit Jahrtausenden so, und ich sehe keinen Grund, warum es in Zukunft anders sein soll. Wir bemühen uns gradezu funktionsgerecht zu arbeiten, und wir sind dabei logischerweise funktionsbewusst.

 

Wir versuchen nicht, die Funktion durch formale Mittel zu verdecken oder wegzumogeln, sondern sind stolz darauf, wenn es uns gelingt, sie in einer unaufdringlichen, selbstverständlichen, harmonischen Form sichtbar zu machen - was leider nur in glücklichen Fällen ganz gelingt. Und „funktionalistisch"? Ich sehe keine Gefahren. Jedenfalls nicht, was die Geräte betrifft, die wir herstellen. Ich kenne keine "funktionalistischen" Radiogeräte, Projektoren, BIitzgeräte und Rasierapparate; auch keine „funktionalistischen" Küchenmaschinen. Im Gegenteil. Es wäre oft wünschenswert, dass sie funktionsbewusster, von mir aus auch "funktionalistischer", konstruiert und gestaltet wären. Viele Hausfrauen können das bezeugen.

 

Lassen Sie mich an Hand voh einigen neuen Geräten und an dem Weg, der zu ihnen geführt hat, von ein paar Erfahrungen und Erkenntnissen berichten, die wir speziell gemacht haben, die aber sicher auch in irgendeiner Form überall dort auftreten, wo Produkte gestaltet werden. Der Weg, der bis dahin geführt hat, ist ein Weg von Gestaltung äußerer Form um Technik, zu einer einheitlichen Gestaltung von Technik und Form - der Weg von der Formgestaltung zur Produktgestaltung. Als wir anfingen, moderne Radios zu bauen, mussten wir auf einem vorhandenen Radiochassis aufbauen - dem vielseitig bewährten Radiochassis der konventionellen Geräte. Wir entrümpelten es von falschem Glanz, verbesserten Aussehen und Bedienungselemente, ordneten sie sinnvoller an, machten die Skala übersichtlicher und bauten ein einfacheres materialgerechteres Gehäuse darum (Bild 1).

 

Die Form dieser Geräte hatte Erfolg, ja, sie zeichnete sich durch eine besondere Langlebigkeit aus. Das Chassis, das in den verschiedensten Gehäusetypen enthalten war, wurde laufend technisch verbessert und weiterentwickelt, aber es konnte in seinem Grundkonzept nicht verändert werden, weil es ja weiterhinin die vorhandenen Gehäusetypen passen musste. Es trat der merkwürdige Fall ein, dass nicht mehr Form um vorhandene Technik gemacht werden musste, sondern neue Technik in vorhandene Form.

 

Trotz dieser Beschränkung versuchten wir, zu neuen Lösungen zu kommen, zu Lösungen, die wegführten vom kompakten Radiom ö b e I zum flexibleren Radiog e r ä t. Wir trennten die Lautsprecher vom Steuerteil und passten beide in der Größe aneinander an, so dass sie sich aufeinander und nebeneinander anordnen ließen, wie beim „Atelier 1 "(Bild 3, 3a). Die Stereophonie kam uns zu Hilfe. Sie verlangte den distanzierten Lautsprecher.

 

Ein wesentlich verstärktes und verbessertes Chassis brachte bei diesem Grundkonzept noch einen weiteren, wie ich glaube, letzten Schritt. Im „Atelier 2" (Bild 4, 4a) wurden die Bedienungselemente erweitert und neu angeordnet, die frühere Bezeichnung der Stationsnamen wurde durch Zahlen ersetzt, die Seitenwangen aus Holz durch mattgebürstete Aluminiumflächen. Die Lautsprecherbox erhielt statt Schlitzen ein kalandriertes Aluminiumgewebe, das ruhiger wirkt und den Ton besser durchlässt.

 

Waren wir bei den größeren Geräten durch das einheitliche Chassis gebunden, so ließen die kleineren und mittleren Einzelgeräte mehr Spielraum für neue Konzepte.

 

Beim „SK 4" (Bild 2), das unsere erfolgreichste Rundfunk-Phono-Kombination werden sollte, brachten wir Plattenspieler und Bedienungsteil in eine Ebene, so dass beide von oben bedient werden können. Wir halten diese Anordnung für sinnvoll, weil das Bedienen des Plattenspielers und das Regeln des Verstärkers unmittelbar zusammengehören. Außerdem stehen Phono-Kombinationen (schon allein durch den Plattenspieler bedingt) meist verhältnismäßig tief. Die Anordnung von oben bietet daher eine bessere Übersicht und Bedienbarkeit. Sie macht es nicht notwendig, wie so oft bei der Vorderbedienung, in die Kniebeuge zu gehen.

 

Bei der Entwicklung des neuen „Audio 1" wurde diese Idee auf einer größeren und technisch anspruchsvolleren Ebene weiterentwickelt; nicht mehr als Einzelgerät, sondern als erster Baustein eines neuen Programms. In Kombination mit dem Lautsprecher L 50 erfüllt er dieselbe Funktion wie die frühere Musiktruhen. Im Bild nebeneinander gestellt versinnbildlichen sie zwei Entwicklungsstufen (Bild 5, 6).

 

Der neue „Audio 1" (Bild 10) ist eine flachgebaute netzgespeiste Stereo­Steuereinheit mit Rundfunkempfangsteil und Plattenspieler. Es ist das erste Gerät seiner Leistungsklasse, das mit Transistoren bestückt ist. Das war die Voraussetzung für die flache Bauweise, bei welcher der Bedienungsteil in einer Ebene mit dem Plattenspieler angeordnet ist. Ein früherer Versuch (Bild 8) mit Röhrenbestückung war wegen des auftretenden Hitzeproblems nicht realisierbar. Er ist der erste Baustein einer zukünftigen Gerätekomplexion. In seinem inneren technischen Aufbau besteht er aus einzelnen austauschbaren Baugruppen. Auch bei einem anderen neuen Gerät kann man die entwicklungsmäßige Tendenz zur funktionellen Erweiterung und Vielseitigkeit erkennen. Das Elektronenblitzgerät „F 80" (Bild 12) ist wie der „Audio 1" ein Hochleistungsgerät, das im Bausteinsystem aufgebaut ist. Es ist der Grundstock zu einer kleinen Studioblitzanlage. Generatorteil, Batteriekästen für Blei- oder Nickelbatterien, Netzgerät, Lampenstab und Ladestecker können in verschiedenen Kombinationen zusammengesetzt werden, je nachdem, ob das Gerät im Atelier, unterwegs, täglich oder nur gelegentlich verwendet wird.

 

Es hatte, anders als die Radiogeräte, in seiner Klasse nur einen einzigen Vorgänger - den „Braun Hobby Automatik" (Bild 11). Er entstand vor bald 10 Jahren und ist das Gerät, das am längsten lebte, ohne dass an ihm Wesentliches geändert werden musste. Seine Form entsprach damals einem sehr fortschrittlichen technischen Inneren. Neben den neuen Entwicklungen bekam sie etwas Altväterlich-Gediegenes. Wir finden sie auch heute noch sympathisch.

 

Der Weg, der zu diesen neuen Geräten führte, ist gleichzeitig der Weg eines immer enger zusammenwachsenden Verhältnisses von Technik und Produktgestaltung. Dieses Verhältnis ist, wie Sie ja aus Erfahrung wissen, ein Problem, das selbst bei sonst günstigen Voraussetzungen oft die besten Absichten zunichte machen kann. Es ist diffizil und schwierig, weil es von Natur aus ein "schizophrenes Problem" ist, das immer entsteht, wenn zwei (oder mehrere) Menschen schöpferisch an einer Aufgabe arbeiten und von verschiedenen Ausgangspunkten her zu einer gemeinsamen Lösung kommen sollen.

 

Gerade bei technisch komplizierten Geräten können sich beide die Arbeit und das Leben schwermachen: der eine, indem er starr auf einer einmal gefundenen konstruktiven Lösung beharrt und sie gegen alle neuen Ideen und berechtigten Forderungen mit dem entwaffnenden Argument abschirmt: "das geht technisch nicht"; der andere, indem er sich in rein formale Wunschvorstellungen verrennt und dann Forderungen stellt, welche die technischen Gegebenheiten und Möglichkeiten nicht berücksichtigen und die dann wirklich "technisch nicht gehen". Aber auch bei gegenseitiger Bereitschaft bietet dieses Stück Abenteuer, das jede komplizierte technische Entwicklung darstellt, allein im Sachlichen genug nicht vorausberechenbare Schwierigkeiten und Überraschungen, welche die oft schon weit gediehenen Arbeitsergebnisse des Produktgestalters zunichte machen können und dann zu Reibereien führen. Hinzu kommt die menschliche Seite.

 

Gerade der Entwicklungstechniker ist über seine rein fachliche Leistung hinaus an dem Produkt interessiert. Er betrachtet es als sein Kind und Eigentum, das er nicht gern, schon gar nicht mit einem Außenstehenden teilen möchte. Er möchte, dass es Erfolg hat und möchte, was er als Voraussetzung dafür ansieht, dass es "schön" ist. Schön ist das, was ihm gefällt, was seinem Geschmack entspricht. Dass der Geschmack des Produktgestalters oft ein grundsätzlich anderer ist - ist nur allzu naheliegend. Persönliche menschliche Anerkennung und Achtung sind notwendig, wenn in dem gemeinsamen Spiel etwas Gutes herauskommen soll. Oft spielen dabei rein emotionale Vorgänge, wie Sympathie und Antipathie, eine größere Rolle als die sachliche Beurteilung von Begabung und Können. Wie lassen sich diese Probleme lösen?

 

Es gibt ein Patentrezept. Sie, lieber Wagenfeld, haben es einmal in einem Vortrage vor Ingenieuren empfohlen: Entwicklungsingenieur und Produktgestalter sollen eine Person sein. Ist es so patent? Sie führten als Beispiel den Flugzeugkonstrukteur an und fragten, warum er, dessen konstruktive Arbeit sich in einem formvollendeten Äußeren ausdrücke, das Innere des Flugzeuges den Designern überlasse?

 

Über die Gestaltung des Flugzeuginneren läßt sich sicher vieles sagen. Nur - würde der Konstrukteur, der die äußere Form des Flugzeuges bestimmte, es anders und besser machen? Vielleicht nicht - sogar schlechter? Könnte es nicht sein, daß im Flugzeuginneren dieselben Blümchengardinen auftauchen, die bei ihm zu Hause hängen? Ist die äußere Form des Flugzeuges so gut, weil der „Geschmack" des Konstrukteurs sie bestimmte, oder nicht vielleicht gerade dadurch, dass naturgegebene physikalische Forderungen und Notwendigkeiten es verhinderten, daß sein „Geschmack" zur Auswirkung kam?

 

Sind es nicht zwei ganz verschiedene Aufgabenstellungen, die jeweils andere und ganz spezielle Begabungen verlangen? Einmal eine sehr hohe technische und konstruktive Begabung, das andere Mal eine auf die menschbezogene Funktion ausgerichtete konstruktiv-formale, zu der psychologisches Einfühlungsvermögen und, um gleich zwei oft mißbrauchte und daher verpönte Begriffe auf einmal zu gebrauchen, künstlerischer Geschmack gehören. Künstlerischer Geschmack - das ist für mich nicht nur angeborene, sondern auch entwickelte Begabung; entwickelt durch dauernde und systematische Beschäftigung mit formalästhetischen Problemen an Hand von realen Aufgaben, durch langjährige, mit diversen Reinfällen und Irrtümern durchsetzte Erfahrung und mit dem Ziel, von rein subjektiven zu möglichst objektiven Wertungen zu gelangen.

 

Wer es wirklich weiß, wird bescheiden. Wer es nicht weiß (und das sind nur allzu viele), glaubt es sich leisten zu können, mit dem oft fragwürdigen und manchmal gar nicht vorhandenen Etwas, das er seinen „Geschmack" nennt, zu urteilen. Dass sich beide Begabungen, die hohe technische und die formal­gestalterische in einer Person vereinen, dürfte ungewöhnlich und selten sein; denn die eine entwickelt sich mehr in einer abstrakten Welt, die andere verlangt Weltoffenheit.

 

Bei Braun haben sich diese Probleme, vor die sich ja vor allem der freie Produktgestalter gestellt sieht, dadurch weitgehend eliminiert, dass die Produktgestaltung im eigenen Hause ist, dass sie zusammen mit der Technik lebt, dass sie dazu gehört. Die Vielfalt und Verschiedenartigkeit unseres Geräteprogramms verlangt dauernden und intensiven Kontakt. Ich halte es für wesentlich, daß unsere Produktgestaltung sich aus improvisierten Anfängen heraus im Zusammenspiel mit den realen und menschlichen Gegebenheiten organisch entwickelte und aus unserer speziellen Praxis heraus zu feineren und differenzierteren Erfahrungen und Methoden gelangte. Sie hat heute vier Produktgestalter: Dieter Rams (als Leiter), Reinhold Weiss, Richard Fischer und Robert Oberheim; als Werkstattleiter Roland Weigend, Assistenten und Mustermacher.

 

Ich komme noch auf ein Problem zu sprechen, das vielköpfig und Stirnrunzeln erzeugend bei der Geburt eines Gerätes Pate steht und auch auf die Produktgestaltung (meistens im Schlechten) einwirkt. Es äußert sich in den Fragen: "Kommt das Gerät auf dem Markt an, kann es erfolgreich neben der Konkurrenz bestehen, ist seine Form dafür richtig, ist sie wirkungsvoll?" Berechtigte und unternehmerisch notwendige Fragen, die sich um so dringlicher stellen, je schärfer der Konkurrenzkampf und je konsumbetonter das Gerät ist.

 

Unser neuer Elektrorasierer, der „Braun Sixtant" (Bild 17, 17a), und die Entwicklung, die zu ihm geführt hat, können dazu einige Blickpunkte geben. Als 1950 der erste Braun-Rasierer, der „S 50" (Bild 13) erschien, gab es keine Absatzprobleme. Der Markt war neu und ungesättigt. Hier gab es auch noch keine Formprobleme. Man machte es, so gut man es wusste (und man wusste noch wenig). Das von uns angewandte Scherblatt-Prinzip erwies sich als eine fortschrittliche und glückliche technische Lösung; es war funktionstüchtig und entwicklungsfähig.
Das nächste Gerät, der „Braun 300 de Luxe" (Bild 14), wurde größer und leistungsfähiger. In seinem Äußeren kann er einen selbstgefälligen und etwas zu dick aufgetragenen Stolz nicht verleugnen, der nur in so fern nachträglich gerechtfertigt schien, weil das Gerät auf dem Markt eine Spitzenposition erlangte. Das war die Situation, als wir anfingen, die Form unserer Geräte bewusst zu gestalten.

 

Beim "Braun Combi" (Bild 15) konnte noch keine grundsätzlich neue Form gemacht werden. Der Kopf, jetzt aus Metall, wurde zwar neu gestaltet, weil ein neues Teil dazu kam (ein Scherkamm, der die Funktion des Gerätes wesentlich erweiterte); die etwas aufgebläht wirkende Gehäuseform musste bleiben. Lediglich durch eine Art "Gesichtsoperation" versuchten wir, sie ruhiger und einfacher zu machen. Erst eine völlige technische Neukonstruktion, der "Braun SM 3" (Bild 16), machte auch eine weitergehende neue äußere Gestaltung möglich. Folgende Überlegungen bestimmten sie: Ein Elektrorasierer ist seinem Charakter nach ein hygienisches Gerät; ein Werkzeug, das unmittelbar am Menschen eine Funktion zu erfüllen hat und gleich zweifach mit ihm in direkte Berührung kommt: Es muß wohltuend, sicher und doch bewegbar in der Hand liegen, und es muss sich den unterschiedlichen
Formen des Gesichts anpassen (eine Forderung, die bei den Braun­ Rasierern von Anfang an berückichtigt war; Bild 13-18).

 

Wir versuchten, diese Forderungen in einer harmonischen und geschlossenen Form zu verwirklichen. Spekulative Blickpunkte auf die Marktwirkung gab es dabei nicht. Sie kamen erst später in die Diskussion. Der Markl hatte sich im Laufe der Zeit geändert. Er war gesättigt und wurde dementsprechend schwierig. Einige Konkurrenten arbeiteten nicht nur mit einer quantitativ überlegenen Werbung, sie versuchten auch, durch "reich" aufgeputzte Geräte Prestigewirkung zu erzielen. Und sie hatten Erfolg.

 

Wirkte die einfache Form des „SM 3" dagegen nicht „ärmlich", und war er dadurch in seiner Marktposition nicht sogar gefährdet? Berechtigte und naheliegende Fragen. Naheliegend schon deshalb, weil es nur allzu menschlich ist, in solchen Situationen die Motive in dem zunächst Zugänglichen und Fassbaren, dem Äußeren, zu suchen. Nur darf man dabei nicht vergessen, dass meist eine ganze Reihe Faktoren zusammenkommt, die sicher gewichtiger als die Form zu bewerten sind: wie z.B. der Preis.

 

In unserem Falle lag der Preis des Braun-Gerätes deutlich unter dem der Konkurrenz. Es ist sicher aufschlussreich, dass im Ausland, wo das Preisverhältnis teilweise umgekehrt war, die Einfachheit der Form als besonderer Wert empfunden wurde. Bei der Entwicklung des "Sixtant" bekamen Überlegungen über die Verkaufswirkung der Form ein größeres Gewicht. Eine neue technische Erfindung, ein wabenartig strukturiertes Scherblatt, brachte eine entscheidende Leistungsverbesserung. Das neue Gerät war von seiner Funktion her wertvoller - es sollte nun auch in seinem Äußeren einen höheren Wert darstellen. Es gibt verschiedene Wege, das zu erreichen. Wir machten es auf unsere Art.

 

Wir behielten die Grundform bei, weil wir sie für gut und von der Funktion her für richtig hielten, und versuchten, die Wertsteigerung durch einen höheren Materialwert zu erreichen. Speziell dafür wurde eine Stelle für Verfahrenstechnik eingerichtet, die in langwierigen Versuchen Verfahrensmethoden zur Oberflächenbehandlung von Kunststoffen und MetaII ausfindig machte. Das Kunststoffgehäuse des „Sixtant" konnte nun eine dunkle strichmattierte Oberfläche bekommen, die sich auch besser greifen läßt. Der Metallkopf ist strichmatt poliert. Der große Erfolg, den dieses Gerät bereits im ersten halben Jahr seiner Existenz auf dem Markt hat, lässt zumindest den Schluss zu, dass man auch bei Massenkonsumgütern in der pauschalen Beurteilung von Wirkungen der äußeren Form auf den Verkaufserfolg vorsichtig sein sollte.

 

Um direkte Fragen zu stellen:
Kann man durch gute Produktgestaltung erfolgreich sein? Sicher bei denen, die sie bewusst wahrnehmen und zu schätzen wissen. Das sind meist relativ wenige, aber Menschen, deren Wohlwollen zu gewinnen es sich auch unternehmerisch lohnt.

 

Kann man durch sie auch breitere geschäftliche Erfolge erzielen? Allein durch gute Gestaltung bestimmt nicht, aber sicher mit guter Gestaltung.

 

Unsere Küchenmaschine „KM 3" kann dazu ein paar aufschlussreiche Blickpunkte geben. Als sie 1957 auf den Markt kam, unterschied sie sich in Form und Farbe von ihren Konkurrentinnen. Wir hatten bei ihrer Gestaltung nicht gefragt: "Kommt sie auf dem breiten Markt an?" Wir hatten sie so gut gemacht, wie wir es konnten und wie es uns gefiel. Dass die Form gelungen war, wurde durch die vielen positiven Beurteilungen und internationalen Anerkennungen, die sie deshalb erhielt, bestätigt. Die Maschine wurde ein großer Verkaufserfolg. Sie lag schnell an der Spitze im Marktanteil, den sie bis heute haIten konnte. Woran lag es? An der Form? Die Verführung ist groß, die Frage zu bejahen.

 

Zunächst lag es wohl daran, dass es eine gute leistungsfähige Konstruktion war, einfach in der Handhabung und - was wichtig ist - günstig im Preis; kurz, dass sie insgesamt etwas Besonderes zu bieten hatte. Sicher hätte sie auch Erfolg gehabt, wenn sie anders ausgesehen hätte. So aber verband sich ihre besondere Form mit dem Verkaufserfolg, sie wurde bewusst, auch bei Menschen, die sonst in formalen Dingen unempfindlich waren und die daher leichter das Opfer spekulativer Verführungen sind. Die Form wurde dadurch auch von ihnen als etwas Besonderes empfunden. Nicht nur von ihnen - auch von der Konkurrenz.

 

Auf die äußere Form der Küchenmaschinen wurde jetzt bewusster als früher Wert gelegt. Der Einfluss unserer Maschine zeigte sich nicht nur in der hellen Farbe, die uns viele Versuche und Ausschussquoten gekostet hatte, er zeigte sich teilweise sogar im typografischen Bild der Werbung.

 

Dass ihre Form sogar kopiert wurde, kam sicherlich weniger aus ästhetischem Wohlgefallen, sondern weil man die Form als entscheidenden Faktor für ihren Verkaufserfolg ansah. Wäre sie in ihrer technischen Funktion unzulänglich gewesen und dadurch ein Misserfolg, was wäre passiert? Hätte man nicht die Schuld dafür zunächst in ihrem ungewohnten Äußeren, das sich vom „Normalen" abhob, gesucht, und wären dabei die eigentlichen Ursachen nicht in den Hintergrund getreten? Und hätte die Küchenmaschine des Unternehmens, das die unsere so erfolgreich schön fand, nicht ganz anders ausgesehen?
Ich meine, man sollte die Wirkungen der Form auf den Verkaufserfolg bei technischen Geräten nicht überbewerten. Formgestaltung kann nicht die technische Leistung ersetzen. Wenn ein Gerät technisch und in seiner Funktion schlecht ist, kann ihm weder eine gute noch eine schlechte Form, also auch keine mätzchenhaft-spekulative, zu einem längeren erfolgreichen Leben verhelfen.

 

Je fortschrittlicher die technische Leistung und je höher der funktionelle Wert eines Gerätes ist, um so eher wird man sich - auch bei einem breit gestreuten Konsumartikel - eine gute Form leisten können. Bei alledem sollte man auch die psychologischen Wirkungen nicht vergessen, die das Bemühen um gute konsequente Produktgestaltung hat - sowohl nach innen als auch nach außen.

 

Durch die höheren Ansprüche, die wir all die Jahre über an die Form unserer Geräte gestellt haben, hat sich ganz von selbst auch ein höheres technisches OuaIitätsbewusstsein entwickelt. Und nach außen? Bei der kurzfristigen Erfolgsbetrachtung sollte man nicht ihre langfristige vertrauensbildende Wirkung außer acht lassen. Sie lässt sich zwar rechnerisch nicht unmittelbar erfassen; aber ich bin überzeugt, dass sie ein gewichtiges, unternehmerisches KapitaI sein kann.

 

Herzlichst (obwohl es ein Superlativ ist)
Ihr Fritz Eichler

 

 

Quellen:
Eichler, F.: Brief an Wagenfeld. Bewahrt im Archiv von Artur Braun, Königstein/Ts.. Ordner: Braun Personen, Abteilung 1 Fritz Eichler; Eichler, F.: Brief an Wagenfeld. In: form, Internationale Revue, Heft 23, September 1963, 8-17 und Eichler, F.: Brief an Wagenfeld. In: Eichler, F.: "Gesagt" von Dr. Fritz Eichler, Kronberg 1973, 5-15

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