Hartmut Jatzke-Wigand
 
Artur Braun: Max Brauns Rasierer

Artur Braun

Max Brauns Rasierer


Noch das unscheinbarste Fabrikerzeugnis ist unser Bildnis in seiner Art
Wilhelm Wagenfeld

 

Max Brauns Rasierer
Erinnerungen von Artur Braun

 

Je älter man wird, umso wichtiger sind Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Wie oft muß ich da an Max Brauns Rasierer denken, an jenen kleinen Apparat, der im Leben unserer Familie eine so große Rolle spielte. Weltweit kennen und schätzen ihn heute viele Millionen Menschen, aber wie er vor langen Jahren entstanden ist, gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Es ist Zeit, daß ich versuche, seine Geschichte festzuhalten.

 

Leichter gesagt, als getan. Ich bin ja kein Schriftsteller und brüte viel zu lange vor einem leeren Blatt. Gut, daß es keine Veröffentlichung werden soll, sondern nur eine Erzählung für unsere Familie und unsere Freunde und daß es nur um einen Gebrauchsgegenstand geht, den man schwerlich kränken oder gar verletzen kann. Oder steckt am Ende doch mehr in ihm, als man so denkt?

 

Meine Erzählung beginnt mit Max Braun, unserem Vater. Am 25. Oktober 1890 wurde er in Schillgallen, dem späteren Hochdünen, im Memeldelta geboren, in jenem Teil Ostpreußens, der nach dem Krieg sowjetisch wurde und uns seitdem verschlossen war. Erst im September 1992 konnten Elfi und ich Vaters Heimat zum ersten Mal besuchen. Wir kamen in ein schönes, aber durch Krieg und Besetzung gezeichnetes Land. Selbst die Friedhöfe hatten die Russen zerstört. Auf die Großeltern Friedrich und Karoline fand sich kein Hinweis mehr. Anhand der Beschreibungen in Onkel Richards Erzählung entdeckten wir aber ihre Ländereien, ein verfallenes Gebäude, das wahrscheinlich Vaters Geburtshaus war, und den kleinen See, in dem er einst mit seinen Brüdern gebadet hat. Lange standen wir vor dem verwahrlosten Bau seiner kleinen Volksschule im nahen Kirchdorf Schakuhnen und den Ruinen jener Landmaschinenfabrik in Neukirch, in der er seine Maschinenschlosserlehre machte. Wie hatten wir uns gewünscht, das alles einmal zu sehen!

 

Aus der schier endlosen Weite dieses bäuerlichen Landes, das seinen jungen Menschen nur wenig bieten konnte, zog er damals nach bestandener Gesellenprüfung in die Welt, 20 Jahre alt und ohne nennenswerte Mittel, aber mit dem unwiderstehlichen Drang, etwas zu unternehmen und vielleicht einmal sein eigener Herr zu werden.

 

Weltstädte mit ihrem starken Kontrast zu seiner bäuerlichen Heimat müssen ihn angezogen haben. Seine erste Stelle fand er in Hamburg, bei Wilhelm Fette im Maschinenbau. Nach dem Militärdienst in Spandau blieb er in Berlin und arbeitete dort bei Siemens, bei Stock & Co und lange bei der AEG im Turbinenbau. Ein Abendstudium am privaten Polytechnikum Barth in der Chausseestraße bezahlte er aus eigener Tasche, und seine Zeugnisse in Maschinenbau und Elektrotechnik beweisen, daß er sich nichts geschenkt hat. Nebenbei wurde Englisch gelernt. So lebte er lange Jahre in Berlin und nutzte diese harte Zeit abhängiger Tätigkeit, um sich weiterzubilden. Im Mai 1918 lernte er auf der Hochzeit seines Bruders Richard in Wiesbaden unsere Mutter Mathilde kennen und heiratete sie im November 1920 im rheinhessischen Armsheim. Sie zogen nach Frankfurt in die Robert-Mayer-Straße. Mit einem Darlehen des Schwiegervaters Peter Göttelmann konnte er in einer Hinterhausetage der Jordanstraße 20 eine eigene Werkstatt gründen. Das war im Mai 1921. Endlich war sein langgehegter Wunsch, sich selbständig zu machen, sein eigener Herr zu werden, in Erfüllung gegangen.

 

Damals hatten Maschinen zur Kraftübertragung noch lederne Treibriemen, deren Enden man umständlich miteinander verklebte. Schon als Maschinenschlosser bei der AEG muß er daran gedacht haben, diese Riemen ohne Klebstoff zu verbinden. Später hat er dafür einen kleinen Apparat konstruiert. Der wurde das erste Erzeugnis seiner eigenen Werkstatt, und hat sich, weil er so neu und brauchbar war, ausgezeichnet verkaufen lassen, sogar im Ausland. Damit hatte Max Braun seinen Weg gefunden.

 

Es war kein leichter Weg, sondern von Anfang an ein aufreibender Kampf gegen alle nur denkbaren Widerstände. Die Zeiten hätten für eine Existenzgründung kaum schlechter sein können, damals nach dem verlorenen Krieg und in der beginnenden Inflation. Bald kostete ein Brot Milliarden Reichsmark. Die wenigen Pfundnoten aus seinen Exporten nach England halfen ihm, mit seiner kleinen Werkstatt zu überleben. Unsere Mutter hat uns manchmal von diesen schweren Zeiten erzählt, wie Vater bis spät abends an seinen Maschinen stand, und wie sie damals noch oft mitgearbeitet hat.

 

Nach der Inflation begann die Zeit des Rundfunks. Im Oktober 1923 wurde aus Berlin das erste Radiokonzert übertragen. Max Braun muß so beeindruckt gewesen sein, daß er sich dieser neuen Technik verschrieb. Zuerst fertigte er Kristall-Detektoren. Dann folgten Röhrensockel und Einzelteile, die er auf selbstgebauten Spritzguß-Maschinen herstellte, und schließlich ganze Empfänger. Alles was er produzierte, trug seine ganz persönliche Handschrift. Langsam wuchs sein Betrieb, doch dann ging es wieder ums Überleben:

 

Mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse im Oktober 1929 begann die Weltwirtschaftskrise. Unermüdlich hat Max Braun seine Kunden besucht, gebangt, wenn sie nicht mehr zahlen konnten, und dann wieder am Zeichenbrett gestanden und die neuen Plattenspieler und Rundfunkgeräte entworfen, mit denen er diese schwere Zeit glücklich überstand. Erst in der Mitte der 30er Jahre steuerte sein Betrieb in ruhigeres Fahrwasser. Aber auch das war nur die Ruhe vor dem 2. Weltkrieg.

 

Als Briefbeschwerer lag auf Vaters Schreibtisch eine kleine Turbinenschaufel. Max Braun kam ja aus dem Maschinenbau. Im Grunde interessierten ihn feinmechanische Erzeugnisse mehr als die Hochfrequenztechnik. Einmal schenkte er mir zum Geburtstag einen neuentwickelten Tischventilator. Mir gefiel er gut, nur verkaufen ließ er sich kaum. Erst viel später wurde mir klar, daß gerade dieser Ventilator Vaters erster Versuch war, mit Elektrokleingeräten von seinen Radios unabhängiger zu werden, deren Verkauf unter ständig wiederkehrenden Absatzkrisen litt.

 

Vater war von rastlosem Temperament, ungeduldig und für seine Umgebung oft sehr anstrengend. Dauernd war er unterwegs auf der Suche nach neuen Eindrücken und Anregungen. Im April 1936 zog es ihn nach Amerika. Eine Studienreise der Elektroindustrie bot willkommenen Anlaß, sich im Land der Unbegrenzten Möglichkeiten umzusehen. Die Serien- und Massenproduktionen dort waren nach seinem Geschmack. Sie müssen ihn so tief beeindruckt haben, daß er nach seiner Rückkehr und auch noch viel später immer wieder von Massenerzeugnissen schwärmte: ,,schiffsladungsweise"

 

Eines Tages im Herbst 1938 - ich war damals 13 und Erwin gerade Soldat geworden - brachte Vater aus Frankreich eine kleine Handdynamo-Lampe Marke Pygmy mit nach Hause. Ich sah zu, wie er sie an seinem Schreibtisch auseinandernahm und die Einzelteile mit seiner 6-fach-Lupe betrachtete. Den ,,Stand der Technik feststellen" nannte er das. Manchmal hat er geradezu mit den Einzelteilen gespielt und sie mit sich herumgetragen, bis man sie auf seinem Nachttisch wiederfand. Ich kann mich noch gut an die kleine französische Lampe erinnern, mit ihrem weißen Namenszug in Kursivschrift auf dem schwarzen Preßstoff-Gehäuse, und wie sich Vater in einem seiner winzigen Notizbücher dazu Aufzeichnungen machte. Daß dies die ersten Schritte zu einem Welterfolg waren, konnten wir damals nicht ahnen.

 

Ein Jahr später ist der 2. Weltkrieg ausgebrochen und hat unser ganzes Leben verändert. Vater mußte die Fertigung von Plattenspielern und Rundfunkgeräten einstellen und auf Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht Sender, Empfänger, Fernsteuerungen und Minensuchgeräte produzieren. ln der Endkontrolle saßen jetzt Uniformierte. Dem Vater, der seine Freiheit liebte und von Militär und Parolen nichts hielt, war das alles so zuwider, daß er sich oft nur noch in die Entwicklung einer eigenen Dynamo-Taschenlampe vergrub. Weil andere Dinge Vorrang hatten, konnte sie erst 1940 produziert werden. Wer auf den Namen ,,Manulux" kam, weiß ich nicht mehr. Für viele war sie einfach die ,,Quietsche" und für Vater seine ,,Seh- und Hörlampe".

 

Nachts war es wegen der befohlenen Verdunkelung stockfinster, und Batterien für Taschenlampen wurden knapp. Das machte die Manulux, die keine Batterien brauchte, so begehrt, daß fast 1000 Stück täglich hergestellt werden mußten. Endlich besaß Vater das feinmechanische Massenprodukt, das er sich immer so gewünscht hatte, wenn auch nicht unter diesen Umständen.

 

Ich war damals noch Schüler und lebte wohlbehütet bei den Eltern. Manchmal durfte ich im gemeinsamen Badezimmer Vaters Philips-Trockenrasierer benutzen, mit dem er oft experimentierte. Das Ding gefiel mir. Mit seinem kleinen Rundkopf rasierte es zwar nur langsam, aber das schwarze Preßstoffgehäuse lag gut in der Hand, und alles war bequemer, ohne Seife und Klingen. Auch einen Sunbeam, mit radial hin- und hergehendem Messer, haben wir damals ausprobiert. Da hat meine Liebe zur Trockenrasur begonnen.

 

Obwohl Krieg war, fand Vater manchmal einen Weg, in die Schweiz zu reisen. Dort waren Trockenrasierer schon bekannter, und dort konnte er auch welche kaufen. Nach einer solchen Reise im Spätherbst 1942 entschied er sich, einen eigenen Rasierer zu entwickeln. Den letzten Anstoß dazu muß ihm sein langjähriger Schweizer Geschäftsfreund, Hans Eggenberger, gegeben haben.

 

Es war eine glückliche Entscheidung, typisch für Vaters Gespür. Da war ein Produkt, das täglich gebraucht wurde, für seinen Betrieb vorzüglich geeignet und in Größe, Gewicht und Herstellung seiner Manulux sehr ähnlich, mit der er schon Erfahrung in der Massenproduktion hatte. Wie die Manulux, sollte sein Rasierer auch von Hand angetrieben werden. Monatelang haben sich viele Tischgespräche um sein neues Vorhaben gedreht, und schon an Ostern 1943, als ich nach dem Notabitur zum Arbeitsdienst mußte, war ein erstes Handmuster mit radial bewegtem Messer im Entstehen. Ernst Pauli, einer seiner fähigsten Männer im Werkzeugbau, begann schon mit den Stanzwerkzeugen für die komplizierten Scherteile.

 

Es muß aber Probleme mit diesem System gegeben haben, denn schon im Mai 1943 zeichnete sein damaliger Konstrukteur Albert Tränkner einen Rasierer mit geradlinig bewegten Messern. Noch vorhandene Blaupausen zeigen den Kopf eines HARAB-Rasierers, den Vater aus der Schweiz mitgebracht hatte.

 

Vater hatte es geschafft, mich vorübergehend vom Militär frei zu bekommen. So konnte ich nach dem Arbeitsdienst im Oktober 1943 zu Hause bleiben und meine Elektromechanik-Lehre in seinem Betrieb beginnen. Ich fühlte mich wohl in den Werkstätten mit ihren Menschen und Maschinen und war oft im Labor bei Friedel Dorfschäfer, Vaters wissenschaftlichem Mitarbeiter, oder als Gasthörer in der Frankfurter Universität. Rasierer waren nicht ,,kriegswichtig", offiziell durfte nicht daran gearbeitet werden. Für Vater rückten sie aber mehr und mehr in den Mittelpunkt. Gleichzeitig befaßte er sich damals mit einer Neukonstruktion der Manulux, die aber wegen der Kriegsereignisse nicht mehr realisiert werden konnte.

 

Das erste zerstörte Haus nahe der Frankfurter Universität war noch eine Sensation, viele sind hingegangen, um es zu sehen. Doch bald hinterließ der Krieg immer tiefere Spuren. Ganze Straßenzüge sanken in Schutt und Asche, und fast jede Nacht mußten wir in den Luftschutzkeller. Dann erlebten wir den verheerenden Luftangriff des 22. März 1944, dem halb Frankfurt und der größte Teil der Werksanlagen zum Opfer fielen. Noch in der Nacht haben wir verzweifelt versucht, einiges zu retten, aber viel war nicht mehr zu machen. Die nächsten Tage zeigten das ganze Ausmaß der Verwüstung. Verstört bin ich mit Vater durch die rauchenden Trümmer der Werksgebäude gegangen. Er war grau im Gesicht und hat versucht, sich seine tiefe Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen. Was muß in diesen Tagen in ihm vorgegangen sein!

 

Die folgenden Wochen waren mit Aufräumungsarbeiten angefüllt und mit notdürftigem Herrichten einiger Räume und Werkstätten. Wenig später mußte ich dann Soldat werden. Kein Wunder, daß ich da viele andere Dinge im Kopf hatte.

 

Zäh und unbeirrt, so wie es seinem ganzen Wesen entsprach, arbeitete Max Braun unterdessen weiter an seinem Trockenrasierer, aller Zerstörung und dieser furchtbaren Zeit zum Trotz. Er hatte schon ein Kriegsende erlebt und wußte, daß es danach weitergeht. Die Sorge um das Bestehen seines Werks nach dem Krieg muß ihn getrieben haben, und so entstand in diesen letzten Kriegsmonaten seine überragende Erfindung. Seine Idee, bei einem Trockenrasierer eine flexible, gelochte Folie über hin- und hergehende Untermesser zu spannen, sollte das Kernstück des späteren Wiederaufbaus werden!

 

Meine Kompanie lag an der Oder, nördlich von Berlin, als US-Truppen im Frühjahr 1945 Frankfurt a. M. besetzten. Damit riß unser Briefkontakt ab. Erst im Sommer konnte ich aus einem Gefangenenlager in Holstein einem entlassenen Kameraden ein Lebenszeichen mitgeben. Vater soll es im Gefängnis erhalten und dem Boten aus Freude auf den Rücken gehauen haben. Wegen unerlaubten Besitzes von rotem US-Benzin hatte man ihn zwei Wochen in Untersuchungshaft genommen.

 

ln einem Viehwagen bin ich Anfang September völlig verhungert nach Frankfurt zurückgekehrt. Vom Südbahnhof aus lief ich die letzten Kilometer quer durch die zerstörte Stadt nach Hause, in banger Sorge, was ich dort vorfinden würde. Das Gebäude stand noch, und als ich am Gartentor ein Schild sah, daß man von alliierten Soldaten Radios zur Reparatur annahm, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Alle waren gesund, und die Wiedersehensfreude riesengroß. Ich war glücklich, daß ich wieder zu Hause war und daß Vater trotz allem seinen Humor nicht verloren hatte, der oft deftig und hintergründig, aber nie gehässig war. Er muß geahnt haben, was uns blühte, wenn er in seiner unnachahmlichen Art meinte, daß wir den Krieg verloren hätten und jetzt Coca Cola trinken müßten.

 

Es gab so vieles zu berichten, und ich konnte kaum erwarten, zu sehen, was Vater inzwischen aus seinem Rasierer gemacht hatte. Seine flexible Scherfolie fand ich einfach großartig, und wie hat er sich über meine rückhaltlose, ehrliche Anerkennung gefreut! Heute weiß ich, wie dringend er sie brauchte, bei aller nach außen gezeigten Robustheit.


Vaters Idee, seinen Rasierer wie die Manulux mit der Hand anzutreiben, hatte sich nicht verwirklichen lassen. Die Finger erlahmten zu schnell, und das Gerät ließ sich nicht gleichmäßig führen. Ohne Netzanschluß ging es nicht, und da lag jetzt im Spätsommer 1945 auf einem Tisch in Vaters Schlafzimmer ein primitives Versuchsmuster. Wir mußten es noch an einen handelsüblichen Kleinmotor andrücken, damit es überhaupt lief. Das Herzstück, ein Scherblatt aus nur 0,05 mm starkem Stahlblech, hatte Karl Pfeuffer - sie nannten ihn später Vaters ,,Leibmechaniker" - mit einem einreihigen Lochwerkzeug in vielen einzelnen Schritten Reihe für Reihe gelocht. Auf einer Gehäuseseite hing es an zwei Knöpfen, auf der anderen zog es ein federnder Schlitten über den Messerkopf. Daß wir uns mit diesem Ding kaum rasieren konnten und das Blatt immer heraussprang, wenn es in den Bartstoppeln hängenblieb, tat unserer Begeisterung keinen Abbruch.

 

Erwin hatte sich schon früher nach Hause durchgeschlagen, mit dem Fahrrad von Halle an der Saale aus, wo er zuletzt Lehrer an der Heeres-Nachrichtenschule war. Manchmal denke ich noch an den 1. Oktober 1945, an dem wir beide in Vaters Firma in der Idsteiner Straße 91 anfingen. Erwin als Kaufmann und ich als Techniker. Während er neben seiner Arbeit im Werk Betriebswirtschaft studierte, setzte ich meine Lehre fort und fing an, Vater beim Weiterentwickeln seines Rasierers zu helfen. Im ausgebrannten Werksgebäude waren schon ein paar Räume wieder hergerichtet, und nach und nach meldeten sich die alten Mitarbeiter zurück. Gott sei Dank hatten fast alle den Krieg glücklich überlebt. Es gab viel aufzuräumen und wenig zu produzieren. Anfangs stellten wir aus altem Wehrmachtsmaterial Trafos her, mit denen die US-Soldaten ihre 110 Volt-Radios an unser 220 Volt-Netz anschließen konnten. Ohne Trafo ist damals manches amerikanische Gerät verschmort. Gut, daß wir auf diese drastische Weise etwas Arbeit bekamen.

 

Im 1. Stock, über dem Eingang an der Kelkheimer Straße, hatte sich Vater ein provisorisches Büro eingerichtet. Ich erschrak ganz schön, als er mir sagte, ich solle dort in einer Ecke neben der Tür Anker für einen neuen Rasierermotor wickeln - ihn dabei immer im Rücken! Eine Wickelmaschine hatte er sich dafür schon ausgedacht. Der ganze Betrieb half mir, sie zu bauen, und nach einigen Wochen konnte meine Ankerwickelei losgehen. Weil der Rasierer am Netz betrieben werden sollte, war der Draht nur 0,07 mm dünn. Immer wenn er riß, kamen Ermahnungen von hinten, manchmal auch ein Wurfgeschoß. Vaters Rasierermotor war einem Gleichstrommotor aus der Kriegsproduktion nachempfunden. Friedel Dorfschäfer zeigte mir, wie man Anker- und Feldspulen berechnet und die Anschlüsse ordnet. Alles mußte gut isoliert sein, der Kollektor sauber eingelötet und rundlaufend gedreht. Nach vielen Mühen und Pannen surrte schließ-lich das erste kleine Ding. Ich war mächtig stolz darauf. Der Kollektor machte uns viel Kummer. Fertig gab es in dieser Nachkriegszeit so etwas nicht zu kaufen - Kupfer nur gegen Altkupfer. Unser ganzer Fahrzeugpark bestand damals aus einem alten, zerschossenen Fiat-Topolino, mit dem Vater den amerikanischen Truppen entgegengefahren war. Seine friedliche Absicht verkennend, hatten sie ihn unter Feuer genommen. Gottlob war ihm dabei nichts passiert! Mit diesem Topolino also fuhren wir nach Gustavsburg zur VDM, die er überredete, uns kleine Kupferprofile zu ziehen. Die wurden dann mit Phenolharz umpreßt. Anschließend fräste ich die Schlitze zwischen den Lamellen mit einer kleinen Maschine, die Lorch-Schmidt, eine Frankfurter Drehbankfabrik, nach langem Zureden für uns gebaut hatte. Es war schon eine Tragödie, wenn manchmal ein so aufwendig hergestelltes kleines Ding beim Aufpressen auf die Ankerwelle zerbrach. Bald rächte sich, daß die Bauweise von einem Gleichstrommotor stammte. ln den massiven Eisenteilen entstanden Wirbelstrom-verluste, und der Wirkungsgrad des Motors war schlecht. Einfacher gesagt: Er wurde heiß und war zu schwach.

 

Weil unser Zusammenleben in seinem engen Büro nicht immer harmonisch verlief, hatte mir Vater schließlich erlaubt, in einem winzigen Raum im Zwischenstock eine eigene Werkstatt einzurichten, mit einem Zeichenbrett und auch einer kleinen Drehbank, die Vater von Lorch-Schmidt für mich ergattert hatte. Ich zeichnete und baute dort meine Motor-Version. Mit geänderten Feldspulen und geschichtetem Kern war sie besser an Wechselstrom angepaßt, hatte einen höheren Wirkungsgrad und war ein Stück kürzer. Es dauerte, bis ich Vater von meinem Vorschlag überzeugt hatte. Inzwischen arbeitete er mit seinen Werkzeugbauern Ernst Kunz, Karl Pfeuffer und Ernst Pauli intensiv an den Scherblättern. Nach dem ersten einreihigen Lochwerkzeug war schon ein mehrreihiges im Entstehen, aber wer konnte so viele kleine Löcher von nur 0,45 mm Durchmesser in eine Schnittplatte aus Werkzeugstahl bohren? Wenn ein Bohrer abbrach, war alles verdorben. Auf einem von Karl Pfeuffer gebauten Maschinchen haben auch Erwin und ich uns versucht. Wie schön, daß wir die ersten waren, die eine ganze Platte bohren konnten, ohne daß ein Bohrer darin steckenblieb. Das dauerte natürlich, und nachts träumte ich manchmal von den kleinen Spiralbohrern, wie sie beim Anbohren tanzten, bevor sie abbrachen.

 

Auf Karl Pfeuffers Werkzeugen entstanden zunächst nur Rundlöcher, die zum Rasieren längerer Bartstoppeln wenig taugten. Ein Experte hatte vor Stempelbrüchen gewarnt, falls ein Loch angeschnitten würde. Wir fanden aber heraus, daß getrost ineinander gestanzt werden konnte, und auf diese Weise auch längere Schlitze oder gemischte Muster aus Löchern und Schlitzen herzustellen waren. Später bekamen wir dafür das Deutsche Patent 940 095. Nur die kleinen, halbmondförmigen Stanzabfälle mußten ständig mit Preßluft weggeblasen werden, damit sie die Schnittplatte nicht verstopften. So extrem dünnes Stahlband war schwer zu beschaffen. Vater nahm mich einmal mit ins Sauerland, zu den Walzwerken Kuhbier. Als wir dort ankamen, herrschte Katastrophenstimmung. An unserem Scherblattmaterial war gerade ein 12-achsiges, schweres Walzgerüst zerbrochen. Welch ein Verlust damals. Die gelochten Blätter waren noch weich, sollten aber die Härte von Rasierklingen bekommen. Aber wie, und wer konnte da helfen?


Vater suchte in solchen Fällen überall Rat. Auch mit der Härteabteilung der Degussa stellten wir Versuche an, aber aus den Salzbädern kamen die Blätter zwar hart, aber verzogen und unbrauchbar. Vielleicht ließen sie sich wie Rasierklingen härten, die als glühende Bänder zwischen gekühlten Stahlbacken durchgezogen und dabei geglättet werden. Das brachte Vater auf die Idee, eine Härtemaschine für intermittierenden Betrieb zu bauen. ln einem Schacht sollten die Blätter, eines nach dem andern, glühend zwischen Stahlbacken fallen, die dann sofort zusammenschlugen. Nach kurzem Abkühlen sollten sie dann unten herausfallen und plan und hart sein. Dies alles automatisch und unter Schutzgas, damit die Blätter blank blieben.

 

Entwurf und Bau einer solchen Maschine sagen mehr über Max Braun als manche Worte. Da hat er, nur um mit seinem Rasierer weiterzukommen, eine ganz neue Technologie entwickelt.

 

Und das alles in dieser Zeit. Wie schwer war es damals, das hitzebeständige Chrom-Nickelmaterial für die hochbeanspruchten Bauteile zu beschaffen. Als begehrtes Tauschobjekt mußte auch da die Manulux helfen, die wir als erstes Nachkriegsprodukt schon wieder in kleinen Mengen herstellten. Ich übernahm es, die Muffel der Härtemaschine mit Heizwendeln zu versehen. Dann mußte ich die Hubmagnete und ihre elektrische Zeitsteuerung bauen, zum großen Teil aus altem Wehrmachtsmaterial, das sich noch im Hause fand. Wieder half mir Friedel Dorfschäfer, bei dem ich vieles lernen konnte, was ich durch den Krieg versäumt hatte. Endlich, nach langen Monaten, war es soweit. Die kleine Härtemaschine stand fertig im Labor und lief und hat von Anfang an gut funktioniert. Vater war kein Mann des Überschwangs, aber man konnte ihm die Genugtuung ansehen. Ganze Reihen dieser Maschinen haben wir später gebaut und Millionen von Scherblättern damit gehärtet. Ihr monoton klapperndes Geräusch, die blauen Schutzgasflämmchen und der eigentümliche Geruch nach Gas und verbranntem Öl sind eine fast wehmütige Erinnerung.

 

Auch für die Messerköpfe gab es kein Vorbild. Wieder waren neue Wege zu finden. Nach anfänglichen Versuchen mit geschlitzten Rohren und Köpfen aus vollem Material, hatte Vater die Idee, gestanzte, gehärtete Stahlmesser in ein Druckgußteil einzugießen. Erste Versuche in dieser Richtung waren noch kurz vor Kriegsende gemacht worden. Auf seinen Werkzeugbau hatte Vater immer besonderen Wert gelegt und besaß dort ein Experimentierfeld, wie es nur wenige Konstrukteure haben. Ernst Kunz und die anderen wußten, was er wollte. Mit welcher Hingabe arbeiteten sie an den Versuchswerkzeugen. Und die hatten es in sich. 40 Stahlmesser von nur 0,2 mm Stärke unter hohem Druck in Aluminium einzugießen, war geradezu verwegen. Komplizierte Formplatten mußten aus glühend heißen Werkzeugen genommen und mit Messern gefüllt werden. Über Vorversuche mit wenigen Messern und leichter schmelzendem Zink tasteten sie sich vorsichtig heran. Wegen der hohen Temperaturen wählten sie schließlich Zwischenmagazine, die vorher mit Messern gefüllt werden konnten, ohne daß man sich dabei die Finger verbrannte. Ernst Pauli baute später ein aufwendiges Block-Schnittwerkzeug für diese Messer. Nach dem Stanzen wurden sie als Schüttgut gehärtet. Das brachte nur ungleichmäßige Qualität und sollte uns später in der Weiterverarbeitung viel Kummer machen. Die ersten gegossenen Messerköpfe waren noch plump und viel zu schwer für den kleinen Motor, der sie rasch hin- und herbewegen mußte. Unsere Handmuster vibrierten stark und wurden heiß. Gewicht mußte eingespart werden, und komplizierte Werkzeugänderungen waren nötig. Nach dem Guß wurden die Messerköpfe plangefräst, an den Stirnflächen geglättet und dann zwischen Spitzen geschliffen. Die Aluminiumwangen mußten etwas zurückgesetzt werden, damit sie nicht auf dem Scherblatt rieben, sonst gab es beim Rasieren schwarze Streifen im Gesicht. Weil das Leichtmetall die Scheiben verstopfte, waren viele Schleifversuche nötig, aber die Schärfe der Messer blieb lange unzureichend. Vater regierte autoritär und war mit seinen Ideen immer so weit voraus, daß Erwin Herborn, unser Konstrukteur, und die anderen Mühe hatten nachzukommen. Der Werkzeugbau wurde zur reinsten Versuchswerkstatt. Ich immer mittendrin, um Teile für meine Handmuster zu bekommen. Bewundernswert, wie sich jeder einsetzte, damals in dieser außergewöhnlich harten Nachkriegszeit, in der wir alle ständig Hunger litten. Für den Lohn in Reichsmark konnten wir ja nur kaufen, was es auf Lebensmittelmarken gab, und das war wenig. Auch bei uns daheim ging es sehr knapp zu. Max Braun hielt nichts von Schwarzmarktgeschäften. Nach einigen Monaten hatte ich eine ganze Reihe Motoren gebaut und nahm mehrere davon auf einen Prüfstand. In einem ausgedienten Luftschutzkeller surrten sie Tag und Nacht. Mit ausgesuchten Lagern und besonderen Kohlebürsten erreichten wir immerhin schon mehr als einhundert Betriebsstunden. Vater hatte inzwischen Preßwerkzeuge für ein glattes, rundes Gehäuse bauen lassen, so daß ich - Herbst 1946 muß es gewesen sein - unter seiner Aufsicht den ersten durchkonstruierten Rasierer zusammenbauen konnte. Es war ein erhebendes Gefühl, als er lief, und seine Unzulänglichkeiten konnten unsere Freude nicht schmälern. Das Ding war laut, wurde heiß, rasierte schlecht, vibrierte stark, und das Blatt sprang ständig herunter, aber irgendwie mochten wir es. Viele Verbesserungen waren nötig. Vater dachte sich eine Klemmbefestigung aus, damit das Blatt nicht mehr heraussprang und ernsthafte Rasierversuche beginnen konnten. Unter Mitarbeitern suchte er sich seine Opfer, und mancher kam aus seinem Zimmer mit brennendem Gesicht oder wundem Nacken. Einige machten daraufhin einen Bogen um ihn. Das glatte Gehäuse sah arm und nackt aus. Vater wollte es attraktiver machen und ließ es mit Rippen versehen, damit es sich nicht so heiß anfaßte. Was dabei herauskam, war eine Art Fahrradgriff, der keinem von uns gefiel. Erwin und ich versuchten daraufhin, die Form zu verbessern, aber es war nur ein wenig gelungenes Dekor, das schließlich in die Werkzeuge übertragen wurde. Der inzwischen als Handmuster fertiggestellte Vorwiderstand war mit seinem Rundbogen auch keine Schönheit. Niemand war wirklich zufrieden, aber es sah fast so aus, als sollte dieses Gerät in Produktion gehen, obwohl seine Rasierleistung zum Aufwand in keinem rechten Verhältnis stand.

Erwin und mir ließ das keine Ruhe. Wir waren uns bald einig, daß ein reiner Wechselstromantrieb einfacher und preiswerter sein müsse. Nach Vaters Meinung war er mit 3000 Hüben pro Minute ohnehin zu langsam. Als ehemalige Wehrmachtsfunker wußten wir aber, daß dies nur für polarisierte Systeme gilt. Manchmal hatten wir während des Funkdienstes aus unseren Kopfhörern die Dauermagneten herausgenommen und unseren Spaß, wenn sich dadurch die Frequenz verdoppelte und die Stimmen gestandener Unteroffiziere piepsig anhörten. Leider blieb Vater bei seiner Abneigung gegen einen Wechselstromantrieb. In den erreichten Stand hatte er so viel Mühe investiert, daß er sich nicht einfach davon lösen konnte. Das war die Zeit, in der Erwin und ich abends nach Dienstschluß und an Wochenenden geradezu konspirativ an Wechselstromantrieben herumprobierten, ohne daß Vater es wußte. Einmal schliff ich während der Arbeitszeit einen Dauermagneten an einer Topfscheibe, ohne zu bedenken, daß der sich verklemmen könnte. Als das dann passierte, flogen die Brocken mit lautem Knall durch die Werkstatt. Zunächst war alles ganz still, und es hat eine Weile gedauert, bis die braven Werkzeugmacher wieder hinter ihren Werkbänken hervorkamen. Zum Glück hatte der Chef nichts gemerkt. Für einen E-l-Kern baute ich schließlich ein ganzes Stanzwerkzeug, aber unsere Resultate blieben unbefriedigend. Mit Vaters Motor konnten sie sich nicht messen. Inzwischen schrieben wir das Jahr 1947. Polier Schäfer renovierte mit einem kleinen Bautrupp weitere Räume unserer Werksruine, und unter Julius Calzaferris Leitung - er war Vaters erster Lehrling - wurden neben der Manulux schon wieder die ersten Rundfunkempfänger und Plattenspieler gebaut, teilweise noch Vorkriegsmodelle. Absatzsorgen gab es damals nicht. Der Bedarf war ja riesengroß. Niemand dachte an Werbung, und wenn unsere Kaufleute, an ihrer Spitze Wilhelm Wiegand, Waldemar Hallerbach und Wilhelm Mross unterwegs waren, dann nicht, um zu verkaufen, sondern um Material heranzuschaffen.

 

Viele US Soldaten rasierten sich damals schon trocken. Sie besorgten uns die gängigen US-Rasierer, und eines Tages zeigte mir Vater einen Sunbeam, den er gerade bekommen hatte: Einen Rasierer mit einem reinen Wechselstromantrieb! Dieser Sunbeam war durch zwei Anker vibrationskompensiert, eine sehr elegante Lösung. Das machte Vater hinsichtlich seines teuren Motors doch nachdenklich, und vielleicht hatten wir ihm mit unserem ständigen Wechselstromgerede auch schon so zugesetzt, daß er bald wieder am Reißbrett stand und mit Eugen Engert und Erwin Herborn an einem ähnlichen Freischwinger arbeitete. Bald sah alles recht brauchbar aus. Die Konstruktion war einfacher, der häßliche, heiße Vorwiderstand konnte wegfallen, eine Spannungsumschaltung für 110-220 Volt war möglich und sogar eine Funkentstörung wurde nicht mehr gebraucht. Jetzt zeigten sich alle Vorteile des preiswerten, robusten Wechselstromantriebs, für den Erwin und ich so lange plädiert hatten.

 

Um Zeit zu sparen, wurden die Versuchsgehäuse diesmal gefräst. Ich kümmerte mich um die Feldspulen. Sie waren wesentlich leichter zu wickeln als die komplizierten Anker. Langsam reifte der neue Rasierer heran. Schlechter als sein Vorgänger war er nicht, aber viel einfacher herzustellen. Seine äußere Form entstand ohne Modell auf dem Reißbrett. Noch erhaltene Blaupausen zeigen die Unterschriften von Eugen Engert und Erwin Herborn und als Datum den April 1948. Nach monatelangen Versuchen ging es wieder an den Bau von Werkzeugen. Die wirtschaftliche Lage hatte sich spürbar gebessert, und der kommende Juni sollte uns mit der Währungsreform die D-Mark bringen. Eines Tags im Frühsommer, mitten in den Produktionsvorbereitungen für unseren neuen Rasierer, rief mich Vater in sein Büro. Er fühlte sich so schlecht, daß ich ihn mit seinem Wagen rasch nach Hause brachte. Dr. Sprado und Dr. Schöndube stellten einen leichten Herzinfarkt fest und verordneten Vater mehrere Wochen Bettruhe.

 

Beim Stöbern in unserer alten Mustersammlung hatte ich kurz zuvor einen unscheinbaren Rasierer namens STABA gefunden und ihn wenig beachtet, weil sein Scherkopf zu primitiv war. Jetzt hatte ich etwas Muße, ihn genauer anzusehen. Ohne mir viel dabei zu denken, schraubte ich ihn auf und war erst einmal sprachlos. Da lag vor mir eine verblüffend einfache Lösung eines freischwingenden Wechselstromantriebs. Zwar war alles roh und handwerklich hergestellt, die Schrauben aus dem vollen gedreht und der Spulenkörper von Hand geschnitten, aber die Idee überzeugend. Das war das Antriebssystem für unseren Rasierer, das wir so lange gesucht hatten! Leider versäumte ich damals, nachzuforschen, woher dieser STABA kam. Auf dem Markt ist er nicht erschienen. Eines von wenigen Mustern war da in unser Archiv geraten.

 

Ich ging daran, diesen Antrieb mit unseren Scherteilen zu kombinieren. Daß Vater das Bett hüten mußte, gab mir etwas freiere Hand. Die Kugellagerung unserer Messerköpfe, die zufällig paßte, ließ ich in das STABA-Gehäuse fräsen und stellte die Scherblatthalterung von Hand her. Ich konnte kaum erwarten, mein Handmuster an einen regelbaren Trafo anzuschließen, und dann hatte ich ein richtig schönes Erfolgserlebnis, wie es sich Techniker in ihrem Kampf mit der Tücke des Objekts immer erträumen: Das Ding lief außerordentlich gut und zog viel kräftiger durch als unser wesentlich komplizierterer Schwinger! Am liebsten hätte ich laut gejubelt. Ich fuhr schnell los, um Vater alles zu zeigen. Er durfte schon wieder aufstehen und saß im Morgenmantel in seinem Schlafzimmer. Zuerst staunte er, dann war er begeistert, und schließlich hat er mein Muster aufgeschraubt und machte mit seinem Füller Skizzen auf Millimeterpapier, wie er es oft tat, wenn ihn etwas sehr beschäftigte. Als wir es wieder zusammengebaut hatten, lief mein Muster deutlich schlechter, und wir konnten es trotz aller Mühe nicht mehr auf seine vorherige Leistung bringen. Vielleicht wußte Friedel Dorfschäfer Rat. Unsere Messungen zeigten, daß wir es mit einem Resonanzeffekt zu tun hatten, und erst viel später fand ich heraus, daß ich mit meinem ersten primitiven Handmuster fast den optimalen Arbeitspunkt auf der Resonanzkurve getroffen hatte!
Es folgten aufregende Monate. Vater ließ alle Teile sorgfältig durchkonstruieren. Für den Schwinghebel wählte er Alu-Druckguß mit einem Lager aus Sintermetall, das damals neu aufkam. Die ersten Federn wickelte ich aus Klaviersaitendraht auf der Drehbank. Der neue Antrieb paßte in das Gehäuse seines Vorläufers, nur die Innenkontur mußte geändert werden. Erste Dauerversuche konnten beginnen. Die Lagerung machte uns Kummer, weil die hin- und hergehende Bewegung keinen zusammenhängenden Ölfilm entstehen ließ. Zunächst erreichten wir nur 25 Betriebsstunden, dann saß alles fest, waren Federn gebrochen und der Luftspalt zwischen Anker und Stator bombenfest geschlossen. Lager und Federn hatten der extremen Belastung nicht standgehalten, und bei der hohen Erwärmung verzogen sich die Preßstoffgehäuse.

 

Bei den Schwingfedern konnten nur Spezialisten helfen. Friedel Dorfschäfer und Philip Grommet, sein Assistent, hatten mir einen Frequenzgenerator gebaut, mit dem ich die Resonanz der Geräte messen konnte. Ich packte den Kasten in unseren alten Topolino und fuhr zu Leonhard Hüttlinger nach Schwabach bei Nürnberg. Dort war man in der Lage, passende Federdrähte zu ziehen. Mit Dutzenden von Federn versuchte ich meine Geräte abzustimmen. Es war zum Verzweifeln, alle Ergebnisse waren unterschiedlich und keine reproduzierbaren Resultate zu erzielen. Entmutigt fuhr ich nach Hause. Aber schon in den nächsten Tagen tauchte ich wieder in der kleinen Dachkammer auf, die mir Hüttlinger für meine Experimente zur Verfügung gestellt hatte. In langen Versuchen fand ich schließlich heraus, daß die Einbaulage der Federn entscheidend war. Wenn ich sie um ihre Längsachse drehte, konnte ich die Resonanz des ganzen Systems um mehrere Hertz verändern. Damit hatten wir eine elegante Abstimmöglichkeit. So ist aus dem einfachen Staba-Schwinger ein justierbarer Resonanzantrieb geworden!


Unser neuer Rasierer sah neben amerikanischen Geräten recht ärmlich aus. Besonders ein heller Schick, den mir ein US-Soldat besorgt hatte, gefiel mir besser, und wozu hatten wir im Keller eine Schreinerei. Ich ließ mir von Schreiner Schiebelhuth etwas Lindenholz geben und baute dort zwei Holzmodelle, mit denen ich mich an den Schick anlehnte. Nachdem sie in der Lackiererei schön hell gespritzt waren, versah ich sie mit allen Metallteilen. Irgendwie müssen sie Vater gefallen haben. Er hat sie, wahrscheinlich nicht ohne längeres Zögern - aber so genau weiß ich das heute nicht mehr - übernommen. Damit waren wir dem späteren S50 schon sehr nahe, und alles sah so brauchbar aus, daß wieder Produktionsvorbereitungen beginnen konnten. Es hat dann viele Monate gedauert, aus dem Versuchsstadium in eine laufende Fertigung zu kommen, besonders mit den komplizierten Scherteilen.

 

Im Herbst 1949 sagte mir Vater, ich solle in einem Raum in der Nordost-Ecke des obersten Stocks die Rasierermontage einrichten und sie dann später leiten. Es war ein gutes Gefühl, daß er mir das so kurz nach meiner Lehre schon zutraute. Tische, Stühle, Bohrmaschinen, Nietpressen und Wickelmaschinen wurden aufgestellt, und bald sammelten sich Kasten und Kästchen mit Einzelteilen. Und dann kam ein großer Augenblick: Hans Lenz vom Lohnbüro stellte mir meine erste Arbeiterin vor. Sie hieß Mina Most und war nett und anstellig. Ich im grauen Kittel und sie mit geblümter Schürze, arbeiteten wir in der kleinen Werkstatt. Jeder einzelne Arbeitsgang sollte sitzen! Vater hatte sich nebenan im Obergeschoß ein Privatzimmer eingerichtet. Jeden Augenblick kam er herein, sah sich alles an und gab Anweisungen. Noch fehlten Netzschnur und Verpackung. Als Etui hatte er sich ein Preßstoffkästchen mit durchsichtigem Polystyrol-Deckel ausgedacht. Werkzeuge dafür waren schon in Arbeit. Mit einem Detail, wie dem Scharnier dieses Kästchens, konnte er sich wochenlang beschäftigen, mit unglaublicher Sorgfalt. Die Netzschnur war viel komplizierter als wir dachten. Nach VDE gab es so kleine Stecker überhaupt nicht. Wegen der Flexibilität wählte Vater eine Gummischnur, aber die erreichbaren Gummiwerke waren nicht gewöhnt, so diffizil zu arbeiten. In primitiven Flachformen wurden da Schuhsohlen und Absätze gequetscht, bei denen es nicht auf Genauigkeit ankam. Notgedrungen ließ Vater eigene Formen bauen, damit wir die Stecker selbst vulkanisieren konnten. Das hört sich so leicht an, aber was wußten wir schon von Gummi. ln Darmstadt fand sich die Firma Tewa, die uns die Rohmischungen herstellte. Unzählige Male war ich dort, mit immer neuen Fragen und Reklamationen. ln einem Raum vor meiner Werkstatt ließ Vater zwei Kniehebelpressen aufstellen, mit denen wir dann die Netz- und Gerätestecker anvulkanisierten. Die fertigen Schnüre steckten wir in einen ,,Serviettenring" aus Polystyrol, und auch den stellten wir selbst her. Später kamen oft Anfragen von Firmen, die unsere Netzschnur für ihre Produkte verwenden wollten, sie aber nirgends kaufen konnten. Indessen liefen Dauerversuche im alten Luftschutzkeller. Ausgeschlagene Lager, zerborstene Federn, festsitzende Luftspalte und sogar gebrochene Kabel zeigten, daß noch viel zu tun war. Vater entwarf eine Abstützbrücke aus Messing, die den starken Zug zwischen Anker und Stator abfing und so den Luftspalt offen hielt. Ich erprobte derweil die verschiedensten Lager. Mit einem Sintereisen von VOM erreichten wir über 100 Betriebsstunden, einer Lebensdauer von etwa 4 Jahren entsprechend. Die Federbrüche konnten wir zunächst nicht abstellen. Zum Glück waren sie nicht häufig.

 

Die fertigen Rasierer kamen mit der Netzschnur in das Preßstoffkästchen, eine Gebrauchsanleitung nach Entwürfen unseres Haus- und Hofgrafikers Will Münch dazu, und dann steckten wir das Ganze, in Seidenpapier verpackt, in einen Umkarton. Auch den hatte Münch entworfen. Zuletzt wurde die Netzspannung aufgestempelt. Langsam stapelten sich die fertigen Geräte. Als Verstärkung waren Betty Werner, Luise Richter und Frau Moch gekommen und viele andere. Eines Tages kam mir Vater vor meiner Werkstatt mit Hans Kleespies entgegen. Der war Feinmechaniker und hatte bei Zeiss in Jena und bei Plaubel gearbeitet. Vater hatte mit keinem Wort erwähnt, daß er mir in der Rasierermontage helfen sollte. Ich war froh, neben den Arbeiterinnen einen Fachmann zu haben, und wir verstanden uns gut. Aus der Kameraproduktion war er genaues Arbeiten gewöhnt - in einer Radiofirma gewiß kein Nachteil. Von Zeiss hatte er ein Stereomikroskop mitgebracht, unter dem wir unsere Bauteile oft studierten. Gratige Messerköpfe und Scherblätter, unsaubere Gewinde, kalte Lötstellen, alles war genau zu sehen. Jeder Messerkopf hatte 40 Messer und war dadurch ziemlich schwer. An den Umkehrpunkten der Bewegung, wo die Messer quasi stehenbleiben, konnten auch keine Haare eintreten. So kam mir die Idee, es mit weniger Messern zu versuchen. Hans Kleespies half mir, aus einigen Messerköpfen jedes 2. Messer herauszunehmen. Dann wurden sie nochmals geschliffen. Den Hub vergrößerten wir auf 2 Messerabstände und der Erfolg war verblüffend: Deutlich bessere Rasur, weniger Vibration und billigere Herstellung. Vater war sehr angetan. Wir beschlossen eine Umbauaktion. Sobald die Werkzeuge geändert waren, packten wir alle Geräte wieder aus, setzten die neuen Köpfe auf und stimmten sie mit weicheren Federn erneut ab. Ich glaube, es waren über 10.000 stück. Ich hatte den Ehrgeiz, alle Rasierer selbst abzustimmen und sorgfältig zu kontrollieren. Von den ersten 25.000 hatte ich jeden in der Hand. Sie sollten so gut sein, wie irgend möglich. Leider rasierten einzelne nur mäßig und reizten die Haut. Wir legten ihre Scherteile immer wieder unter unser Mikroskop. Viele Messer hatten einen Grat, wie er nur bei weichem Material entsteht. Das kam von der primitiven Schüttguthärtung. Wir entfernten den Grat und schliffen die Köpfe nach, aber der eigentliche Fehler war auf diese Weise nicht beseitigt. Natürlich war ich oft in den Maschinenabteilungen und versuchte, die Mängel schon dort abzustellen. Auch die Scherblätter waren recht unterschiedlich. Wenn die Werkzeuge stumpf wurden, entstand ebenfalls ein Grat, der die Rasur beeinträchtigte. Wir bauten deshalb Feinschliffeinrichtungen mit einer neuartigen Schleifkeramik für die Scherblätter und mit Gußrinnen und Schleifpulver für die Messerköpfe. Nicht gerade leise klapperten sie von da an in einer Ecke, und es roch nach Schleifpaste und Metallabrieb, aber die Qualität wurde gleichmäßiger, und darum ging es ja. ,,Material kostet Geld", sagte Vater, wenn er fertige Geräte auf die Waage legte. Er staunte ganz schön, daß wir gegenüber seinem ersten Motormodell mit Vorwiderstand fast die Hälfte an Gewicht eingespart hatten. Unsere Montage lief immer besser. Nach einigen Monaten bauten wir schon 200 Stück am Tag. Vorproduktion und Einkauf kamen oft nicht nach, und so war unsere Hauptsorge, daß Geräte halbfertig liegen blieben. Das unübersichtliche zentrale Lager, in dem unsere Rasiererteile nur eine Nebenrolle spielten, ließ uns oft im Stich. Wenn nur ein einziges Teil fehlte, war wieder Pause. Auf einem großen Regal direkt in unserer Werkstatt richteten wir daraufhin ein Zwischenlager ein, unsere Teile waren ja nicht sperrig. Frau Hainschwang betreute es und war auf den Beinen, wenn etwas fehlte. Von da ab montierten wir reibungslos. Endlich, zur Frankfurter Frühjahrsmesse 1950, waren über 25.000 Geräte fertig, und der Verkauf konnte beginnen. Die Messe war ein großes Ereignis, die ganze Familie am Stand und jeder sehr aufgeregt. Erwin hatte eines der ersten Magnetophone aufgetrieben; im Hintergrund tönte laufend der Schlager jener Zeit: „Du bist heut schlecht rasiert." Die Messe war gut besucht. Stunde um Stunde schob sich ein Menschenstrom an uns vorbei. Trockenrasieren war damals noch so wenig bekannt, daß unser Stand immer umlagert war. Viele Besucher erklärten rundheraus, daß es nicht möglich sei, sich trocken zu rasieren oder die Glätte der Naßrasur zu erreichen. Vater saß etwas hinten im Stand und schmunzelte, wenn Erwin und ich argumentierten und mit dem S 50 an der Wange des Endverbrauchers Überzeugungsarbeit leisteten. Abends waren wir heiser, und die Beine taten uns weh, aber es lohnte sich, die vielen Meinungen zu hören und den S 50 an so unterschiedlichen Bärten zu probieren. Er verkaufte sich glänzend. Wir mußten die Produktion steigern. Bald waren es 400 Stück täglich.


Der weiße Schick hatte eine einfache Spannungsumschaltung. Zwei Spulen wurden entweder parallel oder hintereinander geschaltet. Ich schlug vor, beim S 50 etwas Ähnliches einzubauen. Vater ließ mich gewähren. Inzwischen hatte er den Multimix konstruiert, dessen Montage noch 1950 beginnen sollte. Meine Umschaltung war nach einigen Monaten fertig und hat gut funktioniert. Der Spulenkörper war jetzt so geteilt, daß zwei Spulen gleichzeitig gewickelt werden
konnten. Das hat die Wickelzeit fast halbiert. Um diese Zeit, im Oktober 1950, kamen Bodo Fütterer und Philip Jäger zu uns. Erwin, immer daran interessiert, unsere Mannschaft zu verstärken, hatte Rudi Kurz, einen Kriegskameraden und damals Lehrer an der Frankfurter Ingenieurschule, gebeten, uns fähige Absolventen zu empfehlen. Bodo Fütterer sollte sich in die Rasiererentwicklung einarbeiten und Philip Jäger zusammen mit Josef Bradatsch die Multimix-Montage leiten, die inzwischen neben der Rasiererfertigung angelaufen war. Vater arbeitete schon an einer Saftzentrifuge als Zusatzgerät. Das hielt ihn nicht davon ab, sich einen Nachfolger für den S 50 auszudenken, mit breiterem Scherkopf und stärkerem Antrieb, und ich sollte meine inzwischen gesammelten Erfahrungen beisteuern. Daß wir das labile Preßstoffgehäuse als Montagebasis verlassen mußten, war klar. Wir wählten ein Aluchassis, weil es antimagnetisch war. Dann kam der Stator, den ich deutlich verbessern konnte: Der S 50 Stator mußte zusammen mit dem Paket gewickelt werden. Bei schadhafter Wicklung war das Ganze verdorben, und es war gefährlich, wenn ein Paket aus der Wickelmaschine flog. Auf Millimeterpapier hatte ich den Wickelraum eines U-förmigen Stators untersucht, bei dem die fertig geprüften Spulen einfach aufgesteckt werden konnten, und es klappte. Vater übernahm diesen Stator, der noch heute in den meisten Braun-Rasierern zu finden ist. Nur die Form des neuen Gerätes - es sollte S52 heißen - widerstrebte mir. Unterdessen hatte Vater ein neues Kästchen konstruieren lassen, in dem der Rasierer nicht mehr auf der Seite, sondern auf dem Rücken lag, damit man ihn besser sehen konnte. Ich ahnte nicht, daß dies eine seiner letzten Arbeiten sein sollte, im Herbst 1 951. Wir hatten damals in Hessen den ersten Arbeitskampf nach dem Krieg, und es kam zu einem unseligen Streik, der sich wochenlang hinzog. Fremde Streikposten standen vor den Toren, verwehrten unseren Arbeitswilligen den Zutritt und griffen sie sogar tätlich an. Viele meiner Mitarbeiterinnen nächtigten im Werk auf behelfsmäßigen Liegen oder Packmaterialstapeln, nur um am nächsten Tag wieder arbeiten zu können. Vater litt sehr darunter, daß ihn fremde Leute vor seinem Werk auspfiffen und daß sich zusehends eine feindselige Stimmung verbreitete. Wie traurig, daß er in seinen letzten Lebenstagen noch so etwas erleben mußte. Mit einem dürftigen Kompromiß ist dieser Ausstand schließlich zu Ende gegangen.

 

Weil die Messerköpfe oft nicht scharf genug waren und unser Feinschleifen auf die Dauer zu umständlich, hatte ich mir ein ganz unübliches Schleifverfahren ausgedacht, das nicht wie beim normalen Rundschliff längs der Messerkanten arbeitete, sondern schräg dazu: eine Rundschleifmaschine mit einer Topfscheibe. Gesehen hatte ich so etwas noch nicht, aber irgendwie mußte es gehen. Von einer alten Werkzeugschleifmaschine war eine Spindel verfügbar, und eine Topfscheibe hatte ich schon mit Kolophoniumpulver auf einen Aluminiumträger geklebt. Dann kam der traurige 6. November 1951. Ich war morgens in die Mainzer Landstraße gefahren, einen Keilriemen für meine neue Schleifmaschine zu holen, und als ich zur Idsteiner Straße zurück kam, war alles in heller Aufregung: Vater sei etwas zugestoßen. Ich rannte die Treppen hinauf zu seinem Zimmer im obersten Stock und fand ihn in seinem Sessel zusammengesunken, umringt von Mitarbeitern. Ich öffnete ihm den Hemdkragen, wollte ihm Erleichterung verschaffen. Minuten später kam Dr. Sprado, unser Hausarzt, den man sofort verständigt hatte, nachdem Vater der Telefonzentrale noch sagen konnte, daß es ihm schlecht gehe. Dr. Sprado gab Vater eine Spritze ins Herz, aber es war zu spät. Langsam übermannte uns Hilflosigkeit. - Mein erster Gedanke war, daß Vater sich jetzt nicht mehr sorgen und quälen mußte. Und dann kam das Gefühl einer unendlichen Leere und Trauer. Erwin war gekommen, und wir betteten unseren lieben Vater auf sein Ruhebett im Nebenzimmer, das er viel zu wenig benutzt hatte. Ich erinnere mich noch, daß Wilhelm Mross seinen Empfindungen spontan in wenigen einfachen Dankesworten Ausdruck gab. Traurig und benommen erlebten wir die kommenden Tage und das Begräbnis. Unter den Trauergästen war auch Hans Eggenberger, der Vater zum Rasierer geraten hatte. Nur um etwas zu tun, zeigte ich ihm meine neue Schleifmaschine, so als ob er mir dabei hätte helfen können. Er fand einige herzliche Worte des Lobs, und das gab mir etwas Auftrieb, den ich so nötig hatte.


Immer mehr wurde mir bewußt, welch eine riesige Lücke Vater in seinem Unternehmen hinterlassen hatte, besonders in der Technik, für die ich jetzt, mit meinen 26 Jahren, verantwortlich war. Wie gut, daß ich Zeit hatte, mich einzuarbeiten, und daß es mir Vater dabei nicht gerade leicht gemacht hatte. Daß ich jetzt über einen wertvollen Geschäftsanteil verfügen konnte, daß mir trotz meiner Jugend viel Macht zugewachsen war, hatte nichts Verlockendes, ich sah nur die Verantwortung. Wie selbstverständlich arbeiteten Erwin und ich weiter im Sinne unseres Vaters. Die kaufmännischen Bereiche waren bei Erwin gut aufgehoben, so konnte ich mich ganz auf die Technik konzentrieren. Für mich stand fest, daß ich mich besonders um Vaters wichtigstes Vermächtnis, um seinen Rasierer kümmern würde. Erwins Sorge galt nicht nur dem Vertrieb und der Verwaltung, sondern unserem ganzen Unternehmen. Wie oft hatte er über dessen Stellenwert, nach außen und innen, nachgedacht, und schon kurz nach Vaters Tod regte er an, eine Werkszeitschrift, unseren ,,Betriebsspiegel", herauszugeben. Die erste Titelseite war Max Braun gewidmet. Viele Ausgaben sind bis heute erschienen. Als lebendige Chronik von Braun helfen sie mir beim Schreiben dieser Zeilen.

 

Vor allem konnten wir uns auf Vaters alte Mitarbeiter verlassen. Wer es bei Max Braun zu etwas gebracht hatte, der mußte schon einiges können, und aus jahrelanger Zusammenarbeit kannten wir ihre Stärken und Schwächen. Wilhelm Wiegand, Vaters engster Vertrauter, Waldemar Hallerbach und Rudolf Peter standen ihren Mann. In der Rasiererentwicklung konnte ich mich ganz auf Bodo Fütterer verlassen. Er hatte sich in kurzer Zeit eingearbeitet. Wir verstanden uns gut, redeten die gleiche Sprache und hatten oft ganz ähnliche Ideen. Wilhelm Mross war schon immer der geborene Einkäufer, er half mir sehr bei Außenkontakten, ob es nun um Materialbeschaffung oder Technologie ging. Auch Ernst Kunz mit seinen Werkzeugbauern und Männer wie Heinrich Veith und die anderen in den Maschinenabteilungen wußten sich zu helfen. Hans Kleespies übernahm die Rasierermontage, Hermann Lindemann die Arbeitsvorbereitung.

 

Vater war in Spandau Soldat und danach viele Jahre in Berlin gewesen. ln seinem knappen, oft ruppigen Kommandostil war ein Berliner Einschlag unverkennbar. Es war manchmal köstlich, wenn er damit auf alteingesessene Frankfurter stieß. Bei mir erzeugte seine Art eher Trotzreaktionen, die manchmal auch etwas bewirkten. Ich wußte, daß man es verstand, wenn ich um Rat fragte und jemanden zu Wort kommen ließ.

 

Vielleicht noch in Erinnerung an den hellen Schick aus USA nahmen wir uns zuerst vor, den S50 von schwarz auf helles Elfenbein umzustehen, eine Farbe, die ich heute nicht mehr mag, die aber damals groß in Mode war. Wir mußten das preiswerte Phenolharz verlassen und Carbamid-Preßstoff verarbeiten. Nachdem geprüft war, daß die Festigkeit der hellen Gehäuse ausreichte, gingen wir ans Pressen. ln einer Presserei, die nur dunkles Material kannte, war das mutig. Kein Wunder, daß wir durch Verschmutzungen massenhaft Ausschuß hatten. Erst nachdem die Pressen abgeschirmt waren und ständig geputzt und entstaubt wurde, konnten wir reibungslos arbeiten. Vortablettieren konnten wir noch nicht, dazu fehlte es an Erfahrung mit dem neuen Material, das wir anfangs von Cyanamid aus Amerika bezogen. Ernst Kunz schlug vor, das Pulver in kleinen Polyäthylenschalen unter Hochfrequenzwärme etwas zusammenzubacken, das hat die Verarbeitung bedeutend erleichtert.

 

Dem S50 eine helle Farbe zu geben, war nur ein kleiner Schritt. Ob er den Verkauf förderte oder sich der S50 wegen seiner Neuheit und guten Rasierleistung immer besser einführte, konnten wir damals nicht beurteilen.

 

Jedenfalls war es wichtig, sich um seinen Nachfolger zu kümmern, und da ließ sich nicht mehr verheimlichen, wie wenig mir der S52 gefiel, der doch nur ein vergrößerter S50 war. Er besaß zwar den neuen Stator, aber die Form war plump, und noch etwas anderes störte mich so sehr, daß wir es unbedingt abstellen mußten: Seine Rasierleistung hing wie beim S50 wieder ganz davon ab, ob das Scherblatt richtig aufspannt wurde, und leider mußten wir, besonders auf Messen, immer wieder beobachten, daß viele das Blatt nicht richtig handhaben konnten. Häufig wurde es dabei sogar beschädigt. Bodo Fütterer und ich nahmen uns vor, diesen schwerwiegenden Mangel abzustellen. Wir mußten von der Geschicklichkeit der Benutzer unabhängig werden, narrensicher, wie man so schön sagt. Damit fing eine Entwicklung an, die den S52 verließ, dessen Werkzeuge daraufhin teilweise verschrottet wurden. Ich weiß nicht, ob es ein bewußtes Loslösen vom Entwurf des Vaters war. Jedenfalls war das meine erste wichtige eigene Entwicklung.

 

Die Form beschäftigte mich ständig. Es war der spitz zulaufende Einzug am unteren Ende, der so unangenehm organisch aussah. Ich machte Griffstudien und war schließlich überzeugt, daß es besser wäre, die volle Messerkopfbreite bis nach unten durchzuziehen. So unkompliziert, wie das damals noch möglich war, ging ich in die Schreinerei und baute wieder ein Modell aus Lindenholz. Trotz seines etwas plumpen und zunächst ungewohnten Aussehens wurde es richtungweisend für die Form nicht nur der Braun Rasierer, bis heute. Die ,,Brötchenform" war entstanden. Wie schön, daß es damals noch nicht jene Gremien gab, in denen empfindliche Gedankenpflänzchen zerredet werden, wenn sie gerade keimen.

 

Mein Holzmodell hatte noch die alte Scherblattbefestigung des S50, mit Knöpfen zum Einhängen und einer Klemmplatte, aber die äußere Form, der Stator und das Alu-Chassis standen nun fest. Jetzt ging ich mit Bodo Fütterer an die wesentlich schwierigere Scherblattaufhängung. Ein federndes Element mußte das Spiel zwischen Messerkopf und Blatt ausgleichen, im Grunde etwa so, wie es Max Braun schon bei seinem ersten Motormodell vorhatte, nur mußten wir das Blatt nach dem Spielausgleich festklemmen. Wir grübelten viel an diesem kniffligen Problem herum, bis wir endlich die Idee hatten, nicht das Blatt über einen festen Kopf zu spannen, sondern umgekehrt den Kopf federnd in ein feststehendes Blatt zu drücken.

 

War das ein wichtiger Schritt? Bewegte lnnenmesser gegen feststehende Außenmesser zu drücken, war doch eigentlich die Regel. Ja, es war ein wichtiger Schritt. Wie leicht hätte die Flexibilität des Blattes alles zunichte machen können. Wir stellten viele Versuche an, und tatsächlich, es ging, auch ohne daß wir beide Federn wesentlich stärker machen mußten; der Kopf wäre sonst zu heiß geworden.


Dann nahmen wir uns die Aufhängung des Scherblatts vor. Längere Zeit arbeiteten wir an einer Lösung, bei der es an zwei Nocken auf jeder Seite des Gehäuses hing und zwei Metallklappen ein Herausspringen verhinderten. Doch was uns schließlich nicht gefiel, war, daß das nackte Blatt beim Einhängen sehr gefährdet war. Mir tat es fast körperlich weh, wenn ein Laie dabei Fehler machte und es sich mit einem unangenehmen Geräusch verabschiedete. Das Blatt mußte in eine Halterung kommen, damit es besser geschützt und sicherer zu handhaben war. Ich weiß nicht mehr, wie lange Bodo Fütterer und ich geknobelt haben, bis uns die Remington-Patentschrift 813.667 in die Hände fiel, die einen Rahmen um die Scherköpfe herum, ausschließlich zum Auffangen der Bartstoppeln beanspruchte. Diese Schrift legte besonderen Wert darauf, daß der Rahmen keinerlei Verbindung mit den Scherteilen hatte. Wie nun, wenn wir gerade das machten und unser Blatt im Rahmen befestigten? Bodo Fütterer baute ein Modell, in dem sich das Blatt durch seine Spannkraft selbst hielt, und es ging. Unsere benutzerfreundliche Scherblatthalterung war geboren! Wir erhielten dafür das Deutsche Patent 1005406, an dem die Konkurrenz viele Jahre nicht vorbeikam und das uns einen Riesenvorsprung bescherte. Im Grunde genommen war Max Brauns Rasierer erst jetzt wirklich marktfähig. Jetzt konnten wir ihn zügig fertigentwickeln. Für die äußere Form gab es wieder ein Holzmodell, diesmal viel genauer, auf der Kopierfräsmaschine hergestellt. Und wir bauten einen Schalter ein, damit man den Stecker nicht immer herausziehen mußte. Für den Rahmen wählten wir griffsympathisches Acryl. Schließlich ließ Bodo Fütterer noch ein Modell aus Plexiglas anfertigen, an dem wir das ganze Innenleben studieren konnten. Ohne die vier Kugelbahnen des S50 war das Gehäusewerkzeug viel einfacher, und schließlich preßten wir umgekehrt, mit dem Stempel von unten. Das nach dem Kunzschen Verfahren zusammengebackene Pulver kippten wir einfach auf den Stempel. Die Metalleinlagen saßen jetzt unten und konnten nicht mehr in die Form fallen und sie beschädigen. Am S52-Messerkopf änderten wir nur die Innenkontur. Karl Pfeuffer hatte in der Zwischenzeit die größeren Werkzeuge für die neuen Blätter gebaut und auch neue Härtemaschinen und alles, was sonst noch dazu gehörte, als wir die Aufhängung des Scherkopfes nochmals änderten. Anstelle der zwei Andruckfedern gab es nur noch eine. Wieder wurden die Werkzeuge geändert, und jetzt hatten wir ein neues Teil, das Schwinghebel und Messerkopf verband: das Mitnahmeplättchen. Dieses kleine Teufelsding sah so harmlos aus, hat uns später aber viel Ärger gemacht. Auch an eine Verpackung war zu denken. Aus Offenbacher Entwürfen wählten wir ein Lederetui mit Reißverschluß und gepolstertem Deckel. Manchmal hatte ich mit Vater über eine Fließbandmontage gesprochen, ohne auf Gegenliebe zu stoßen, er hatte zu viel anderes um die Ohren. Jetzt ging ich mit Hans Kleespies an dieses Vorhaben, und bald stand ein Fließband von Rosenkaimer in der 3. Etage. Sein Gummiband war 30 cm breit und in seiner Geschwindigkeit zu regeln. An den Seitenstreifen richteten wir Montageplätze ein, dort saßen die Frauen. Die Arbeitstakte hatten wir noch nicht aufeinander abgestimmt. Dann ließen wir die Anlage laufen und warteten ab. irgendwann kam eine Kaffeetasse auf dem Band daher oder ein anderer Unsinn. So tasteten wir uns langsam und fast spielerisch an eine Fließarbeit heran. Unterdessen hatte ich mich um viele andere Dinge zu kümmern, mein Aufgabengebiet war ja wesentlich größer geworden. Ich entwickelte Plattenspieler, Kofferradios, einen neuen Mixer mit allerhand Zubehör und vieles andere mehr. Auch die Vorproduktion in den Maschinenabteilungen verlangte Zuwendung und natürlich Vaters und mein Lieblingskind, der Werkzeugbau. Die Werkzeugmacher freuten sich über bessere Maschinen und neue Arbeitsplätze mit guter Beleuchtung, persönliche Ansprache und zu Feiertagen auch mal eine Flasche Schnaps. Natürlich waren sie alle gewerkschaftlich stramm organisiert, das tat aber unserer gegenseitigen Zuneigung keinen Abbruch. Auch Erwins Arbeit in den kaufmännischen Bereichen zeigte sichtbare Erfolge. Ständig beschäftigte ihn das Erscheinungsbild unseres Unternehmens. Er hatte Wolfgang Schmittel als Grafiker und G.P. Joest als Werbeassistenten eingestellt. Wolfgang Schmittel sollte unser Firmenzeichen, das noch von Will Münch stammende Braun mit dem hochgezogenen A, überarbeiten und seine endgültige Form festlegen. Im Mai 1953 erschien es erstmals im Betriebsspiegel. Das war Erwins erster Schritt, unserem Unternehmen ein unverwechselbares Gesicht zu geben. Ein besserer Name als das schwülstige ,,300 de Luxe" ist uns damals für unseren neuen Rasierer nicht eingefallen. Bis zur Frankfurter Frühjahrsmesse 1953 hatten so viele unser Fließband verlassen, daß der Verkauf beginnen konnte. Und der 300 de Luxe war eine kleine Sensation! Von da ab war es unsere Hauptsorge, genug davon herzustellen, um die lebhafte Nachfrage einigermaßen zu befriedigen, obwohl der Preis mit 69,— DM deutlich über dem S 50 mit seinen 39,50 DM lag. Dann zog es mich nach Amerika. Im April 1953 flogen Wilhelm Mross und ich mit der Deutschen Studienreisengesellschaft nach den USA. Unsere Gruppe war nur klein - außer dem Leiter, Dr. Stienecke, waren wir nur zu viert - und Besucher aus Deutschland waren damals noch sehr selten, aber die Türen vieler Firmen standen uns offen. Die Bereitwilligkeit, mit der man uns alles zeigte, hatten wir nicht erwartet. Ich erinnere mich gern an Allan Bradley in Chicago oder Webster in Milwaukee. Wie freuten sich dort die deutschstämmigen Mitarbeiter, wieder einmal Deutsche zu sehen und Erinnerungen an die alte Heimat auszutauschen. Wir staunten, daß selbst große Unternehmen mit einem für uns damals unvorstellbaren Automatisierungsgrad auch kleine Betriebe nicht verdrängen konnten, die sich trotz knapper finanzieller Mittel oft recht pfiffig behaupteten. Die hohe Produktivität der Betriebe, ihr zweckbezogenes Arbeiten war beeindruckend. Sehr gut gefiel uns der umfangreiche Einsatz von Druckluft für Automatisierungszwecke, so etwas gab es bei uns nicht. ln Lower Manhattan in der Canalstreet fanden wir bei einem Trödler einen gebrauchten Preßluftzylinder, den Wilhelm Mross auf ein paar Dollar herunterhandelte, und den wir als Anschauungsmuster stolz mit nach Hause brachten. Aber das war eigentlich nicht so wesentlich. Viel mehr ging es um jene amerikanische Produktivitätsmentalität, die so anders, so freier war als die unsere und die damals nach dem großen Krieg der gesamten Weltwirtschaft die dringend benötigten Impulse gab. Wieder zu Hause, versuchte ich in vielen Diskussionsabenden, unseren technischen Führungskräften die Anregungen unserer Reise weiterzugeben. Von da an trafen wir uns wöchentlich, sahen uns manchmal RKW-Filme an und diskutierten oft lange über die vorgesehene Zeit hinaus. Irgendwann, viel später, waren wir so weit, daß alle schmunzelten, wenn jemand sagte, etwas ginge nicht. Unser 300 de Luxe weckte großes Interesse, sogar in Amerika, wo ich Muster gezeigt hatte. ln Deutschland verkaufte er sich von Anfang an hervorragend, ohne daß wir viel Werbung für ihn machten. Wie in Amerika gelernt, versuchten wir kraftraubende, ermüdende Arbeiten Maschinen oder Vorrichtungen zu überlassen, schraubten elektrisch, nieteten auf Hydropressen und versuchten den Materialfluß in Gang zu bringen, denn trotz der Kleinheit der Geräte wurden Kubikmeter und Tonnen von Material bewegt. Unser altes, ausgebranntes Fabrikgebäude in der Idsteiner Straße ächzte in allen Fugen. Besonders seine Etagenbauweise war unpraktisch. Mit den großzügigen ebenerdigen amerikanischen Produktionshallen hatte das nichts zu tun. Zu viele Teile wurden in Kisten und Kästen über die Treppen geschleppt, und an dem kleinen Materialaufzug stauten sich die beladenen Hubgestelle, die wir notgedrungen inzwischen eingeführt hatten. Da half auch lautes Klopfen an den Aufzugstüren nicht. Kein Wunder, daß in dieser drangvollen Enge der Wunsch nach rationeller Fertigung zu ebener Erde immer brennender wurde. Im kommenden Jahr, also 1954, sollte er erfüllt werden. Richard Rohlf, ein ehemaliger Offizierskamerad von Erwin, Ingenieur und Architekt, ließ sich nicht lange drängen, bei uns mitzumachen. Im Januar, beim Skilaufen auf der Seiser Alm, saßen wir abends im Hotel Mezdi und skizzierten moderne Fertigungsgebäude, wie ich sie in den USA gesehen hatte. So begann unsere lebenslange Zusammenarbeit und Freundschaft. Wir wollten aus der Frankfurter Enge heraus, aus dem alten Gallusviertel mit seinen rußgeschwärzten Straßen, irgendwohin in eine Gegend, wo es noch viel Platz gab, auf einer grünen Wiese. Richard sollte diese Aufgabe übernehmen. Er hatte seit Monaten die Frankfurter Produktion studiert, und mit den zuständigen Stellen für Wirtschaftsförderung war schon eine Vorauswahl getroffen. Im Februar 1954 fuhren wir nach Tauberbischofsheim und Walldürn, die damals in die engere Wahl kamen. Das alte Wallfahrtsstädtchen Walldürn hatte es uns angetan, trotz der Misthaufen vor der Tür mancher Bauernhäuser. Ein halbwegs ebenes Wald- und Wiesengelände war zur Gewerbeansiedlung vorgesehen, und ein kleiner Betonsteinhersteller hatte sich schon niedergelassen. Außerdem gab es nebenan noch den ,,Fuchsbau", eine Gaststätte in einem unverputzten Neubau. Als wir dort ein Glas Bier tranken und uns nach Arbeitsmöglichkeiten in der Gemeinde erkundigten, kamen wir mit einem anderen Gast ins Gespräch, der uns für Arbeitssuchende hielt und jedem von uns ein Essen spendierte. Wir haben es dankend angenommen und später mit dem Spender, dem Inhaber eines Walldürner Autohauses, oft darüber gelacht. Ein paar Wochen nach meiner Amerikareise setzten wir ein Inserat in die Zeitung, etwa mit dem Wortlaut, daß man in Amerika bessere Vorrichtungen als bei uns baue und daß wir jemanden suchten, der als Vorrichtungskonstrukteur diesem Mangel abhelfen könne. Unter den Bewerbern schrieb uns einer, das könne man nicht nur in den USA, und wir sollten unser Licht nicht so unter den Scheffel stellen. Es war August Siedler. Er hatte bei VDO als Vorrichtungskonstrukteur gearbeitet und war dann in die Berufsberatung gegangen, weil er den Dauerstreß nicht mehr aushalten konnte - und da war es ihm jetzt zu langweilig geworden. Wir wurden uns bald einig, er hatte ähnliche Vorstellungen wie ich und eine Menge praktischer Erfahrung. Oft saßen wir bis in den späten Abend zusammen und sprachen über neue Vorrichtungen und Automatisierungsmöglichkeiten. Schon 1953 war durch Wilhelm Wiegand und unseren Brüsseler Vertreter Nico Blomhof eine Verbindung zu Ronson in Amerika zustande gekommen, einem großen Hersteller von Feuerzeugen. Ronson interessierte sich für den Vertrieb unseres Rasierers und eine Lizenzfertigung in den USA. Eines Tages besuchte uns Beverly Bond, ein ehemaliger Cheftechniker von Remington, den Louis Aronson zum Aufbau dieses Geschäfts gewonnen hatte. Er sprach kein Deutsch, und mein Englisch war schlecht, aber wir verstanden uns auf Anhieb. Seine Hauptsorge war, daß er viele Rasierer nicht mehr einwandfrei zum Funktionieren bringen konnte, wenn er sie erst einmal demontiert hatte. Ich zeigte ihm ganz offen, wie man sie an einem Frequenzgenerator abstimmt, und mit diesem Vertrauensbeweis begann unsere lange, gute Zusammenarbeit, und eine Freundschaft, die uns bis zu seinem Tode verband. Im Februar 1954 schlossen wir den Ronson-Vertrag, mit 10 Millionen Dollar damals das größte Konsumgütergeschäft nach dem Krieg. Technisch kamen von Beverly Bond viele Anstöße. Seine Qualitätsanforderungen waren hoch. Bei Remington hatten ihm große Fabriken und auch die Rasiererfertigung unterstanden. Er wußte, wovon er sprach. Die USA-Lieferungen unterschieden sich nicht nur in der Netzspannung von den europäischen, sondern auch in der Ausstattung. Das Gehäuse war schwarz, der Scherkopfrahmen elfenbeinfarben. Für das schwarze Gehäuse war ,,satin finish" verlangt, also ein matter Seidenglanz.


Preßformen zu mattieren hatte aber keinen Sinn, weil die aggressive Preßmasse alles blankschliff. Also mühten wir uns, mit Fiberbürsten und Schleifpaste eine halbwegs matte Oberfläche hinzubekommen. Heute ist sie bei schwarzen Gebrauchsgegenständen die Regel, die neuen Kunststoffe erlauben es, die Formen zu mattieren. Die zusätzlichen Lieferungen nach Amerika trieben die tägliche Stückzahl in die Höhe, und bald war das im alten Gebäude in der Idsteiner Straße nicht mehr zu schaffen. Am 20.4.1954 wurde der Grundstein für unser neues Werk in Walldürn gelegt, und in einer Rekordzeit von nur 8 Wochen stand der Rohbau. Richard war in seinem Element. Er hatte mit seiner Frau Anne eine primitive Altbauwohnung in Walldürn bezogen. Elfi und ich besuchten die beiden fast an jedem Wochenende. Abends saßen wir oft an einem alten Kanonenofen und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Schon im Spätherbst waren Halle und Verwaltungstrakt bezugsfertig. Richard und ich bauten das erste Werkzeug in eine Spritzgußmaschine, füllten Granulat ein, brachten alles zum Laufen und hielten bald stolz die ersten Stücke der neuen Walldürner Produktion in der Hand. Es waren Ringe für das Netzkabel, glasklar und noch etwas eingefallen, weil der Nachdruck nicht stimmte, und die Ausstoßer hatten wir zu hoch eingestellt. Es war nicht leicht, in der ländlichen Gegend Facharbeiter zu finden, aber alle gaben sich die größte Mühe. Einige Fachleute aus Frankfurt zogen mit nach Walldürn, unter ihnen Ernst Pauli, der an Asthma litt und sich dort in der guten Luft zusehends erholte. Im Sommer 1954 kam Fritz Eichler zu uns. Erwin hatte ihn im Krieg beim Militär kennengelernt. Fritz hatte da seine Lieblingsbilder moderner Maler im Marschgepäck, die damals als ,,entartete Kunst" galten. Er erzählte Erwin von Paul Klee und den anderen, und so waren sie Freunde geworden. Ein Kunsthistoriker in einem mittleren Elektrobetrieb! Zum Glück hatte Erwin die Phantasie, sich das vorzustellen, und Fritz sollte später unschätzbaren Einfluß auf Philosophie und Gestalt unseres dann viel größeren Hauses nehmen. Er war uns ein wirklicher Freund und der ideale Gesprächspartner. Zahllose Stunden und Tage saßen er und Erwin zusammen, machten Spaziergänge im Vordertaunus und diskutierten bei jeder passenden und manchmal auch unpassenden Gelegenheit. Sie versuchten einen gemeinsamen Nenner zu finden, eine gemeinsame Aussage für unser doch so heterogenes Produktprogramm.

 

,,Für modernen Lebensstil" war schließlich der Begriff, der alles verbinden sollte. Hier erscheint zum ersten Mal das Wort modern, wenn es auch mit dem, was wir später darunter verstanden, noch wenig zu tun hatte. Trotz eindrucksvoller Erfolge, die wir in kurzer Zeit vorweisen konnten, waren Erwin, Fritz und ich mit dem, was wir vorstellten, unzufrieden. Am wenigsten mochten wir unsere überdekorierten Rundfunkgeräte in polierten Holzgehäusen. Für uns waren es nur die ,,Goldkisten". Auch eine Meinungsumfrage über unsere Firma, die Erwin machen ließ, war deprimierend. Wir brauchten andere Qualitäten, wir brauchten Fortschritt und Modernität. Schon im Dezember 1953 war im Spiegel ein Artikel über Raimond Loewy und seinen Bestseller ,,Häßlichkeit verkauft sich schlecht" erschienen. Erwin hatte damals einige Exemplare im Betrieb verteilt, und wir hatten ausgiebig darüber diskutiert. Ständig auf der Suche nach Meinungen von draußen, fragte er jetzt unseren ehemaligen Kunsterzieher Emil Betzler, wer uns bei der Suche nach modernen Radiogehäusen helfen könne, und Emil Betzler nannte ihm Wilhelm Wagenfeld, der gerade in Darmstadt einen Vortrag halten wollte. Erwin ging hin und war von dem, was er sagte, so begeistert, daß er diesen hervorragenden Gestalter und ehemaligen Bauhaus-Mann bat, uns zu helfen. Ich war oft bei ihm in Stuttgart. Während wir an einem Phonokoffer und an einem Plattenspieler arbeiteten, sprach dieser wunderbare Mann über gute Waren und gute Formen, über viele Dinge, aus seiner mir damals noch wenig vertrauten Welt.


Auf Einladung von Erwin besuchte uns im Herbst 1954 Hans Gugelot. Herr Untied, Geschäftsführer unseres Holzgehäuselieferanten Thun in Jettingen, hatte Erwin geraten, sich wegen moderner Radiogehäuse an die Hochschule für Gestaltung in Ulm zu wenden, wo Hans Gugelot damals Dozent war. Erwin erteilte ihm den Auftrag, ein modernes Holzgehäuse zu entwerfen, das er uns wenig später in der Rüsselsheimer Straße vorstellte. Dazu schrieb ihm Fritz Eichler später: ,,Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung in Frankfurt. Du brachtest - geheimnisvoll verpackt - das erste Modell für ein zukünftiges Radiogerät mit. Es war ein spannungsvoller feierlicher Moment -eine Art Denkmalenthüllung: Da stand das Ding - eine viereckige Holzkiste - auf der Vorderseite eine schwarze Kreisfläche und ein Rechteck - das war alles. Und da standen wir - fünf Herren von der Industrie - und starrten das Ding an: ln sportlicher Lederjacke, einen dicken wollenen Schal um den Hals (obwohl es im Zimmer sehr warm war) schautest Du Deinerseits skeptisch - fast ein wenig arrogant wirkend - diese fünf Herren an. Ein Engel ging durchs Zimmer - Du hieltest ihn sicher für einen maskierten Teufel, der das Wunderding aus Ulm gleich mit einem Knall in die Luft sprengen würde. Aber es blieb still - es scheint wirklich ein Engel gewesen zu sein - der Engel, der uns zusammenbrachte. Später hast Du mir gestanden, daß Du diese Vorführung als eine Art Test in Szene gesetzt hast. Du wolltest uns provozieren - Du wolltest wissen, ob wir zu der Sorte von lndustrieleuten gehörten, die es auch einmal mit der sogenannten Moderne versuchen wollten. Als Du merktest, daß es uns ernst war, ja daß wir sogar bereit waren, diesen aus einer Matrix entsprungenen Rohentwurf eines Radiogerätes zur Realität werden zu lassen - da wurden aus den fünf Herren der Industrie für Dich Menschen. Du legtest mit dem dickwollenen Schal die Skepsis ab und wurdest zum Mitverschwörer". Hans Gugelot und seine Mannschaft entwarfen und bauten weitere Modelle. Auf der Düsseldorfer Rundfunkausstellung im Sommer 1955 wurden sie zur Sensation. Otl Aicher, Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung, leitete zu dieser Zeit dort den Bereich ,,Visuelle Kommunikation". Er hatte ein neuartiges System für Messestände entworfen und uns zur Präsentation unserer neuen Rundfunkgeräte in Düsseldorf überlassen. Es war ein typisches Ulmer System, grazil, transparent, leicht auf- und abzubauen und nur aus wenigen Teilen bestehend, die sich gut kombinieren und immer wieder verwenden ließen. ln einem Grundraster konnten kleine und große Stände gebaut und den jeweiligen Platzverhältnissen angepaßt werden. Im Gegensatz zu den üblichen teueren Sonderanfertigungen, die nach jeder Messe herumlagen, weil niemand sich traute, sie wegzuwerfen, brauchten diese Messestände, wenn sie abgebaut waren, fast keinen Platz. Ich gehe so ausführlich auf die neuen Messestände ein, weil sie viel über Otl Aicher sagen. Otl dachte in Zusammenhängen, in Systemen. Für ihn war ein Messestand, eine Schrift, eine Farbe, ein Radiogehäuse nur Teil eines Ganzen. Ihn interessierte nicht nur unser Messestand, ihn interessierte das ganze Unternehmen. Zusammen mit Hans Gugelot hat er es in positivster Weise viele Jahre beeinflußt. Er brachte uns auch neue Schrifttypen, die von da an in allen Drucksachen Verwendung finden sollten. Und seine Hauptsorge war, daß diese Schriften gut zu lesen waren! So einfach und gleichzeitig komplex war das für ihn. Unter Leitung von Fritz Eichler entstand mit Dieter Rams, der eigentlich als Innenarchitekt gekommen war und mit Gerd Müller eine bescheidene Formgestaltungsabteilung, und von da an räumten wir unser Programm auf. Bei Elfenbein und Gold war das noch leicht. Wenn es aber an die Form ging, gab es Probleme. Sollte nun ein Formgestalter einem technischen Gerät eine Hülle anziehen, oder war ein Techniker gezwungen, seine Technik in einen Topf hineinzubauen? Beide Fälle schienen Fritz und mir nicht ideal. Schon damals ahnten wir, daß das Geheimnis guter Gestaltung in der Zusammenarbeit zwischen Technikern und Gestaltern zu suchen war. Natürlich sind Techniker von Haus aus sehr konservativ und mißtrauisch irgendwelchen Kapriolen gegenüber, mit denen sie hinterher nur Arbeit haben, und bei uns war das nicht anders. Es hat viel, viel Überzeugungsarbeit gekostet, diese Widerstände abzubauen und so weit zu kommen, daß jeder vom anderen nicht nur Schwierigkeiten, sondern Anregungen erwartete. Beide Disziplinen müssen sich anerkennen, von der ersten Idee an zusammenarbeiten, das war das Geheimnis, und da verstanden wir uns, Fritz, der im weitesten Sinne Gestalter war, und ich, der Techniker. Unser 300 de Luxe bekam ein weißes Gehäuse mit einem Scherblattrahmen in frischer Farbe und die Netzschnur neue Stecker, die ich nach Anregungen von Prof. Wagenfeld entwarf. Nach vielen Experimenten hatten wir uns anstelle des Gummikabels für eine Kunststoffschnur entschieden. Das Ganze sah in einem hellen Metalletui frisch und sauber aus und hieß jetzt ,,Special". Bei diesen Äußerlichkeiten blieb es aber nicht. Der Special hatte eine viel bessere Rasierleistung, ohne daß man es ihm ansah. Wir waren nämlich auf die Lochränder gestoßen, als wir untersuchten, warum die Leistung der Geräte so unterschiedlich war. Besonders Scherblätter aus verschlissenen Werkzeugen rasierten teilweise sehr gut. Das hing mit der Gratbildung an den Lochkanten zusammen. Im Extremfall lagen diese Blätter nur noch auf dem plangeschliffenen Grat um die Löcher herum auf und das ergab einen guten Schnitt. Karlheinz Halbig, damals Laborleiter, regte an, diesen Effekt durch gezieltes Ansenken der Schnittplattenlöcher herbeizuführen, und das funktionierte ausgezeichnet. Leider wurde aber die Standfestigkeit der komplizierten Werkzeuge dadurch so verringert, daß wir mit der Wartung nicht mehr nachkamen. August Siedler mußte helfen, und er fand nach langem Tüfteln eine besonders elegante Lösung. Er prägte die Kantenerhöhungen in die Scherblätter bevor sie gelocht wurden, und stanzte dann in diese Prägung hinein. Zu berichten, wie er das im Einzelnen machte, würde hier zu weit führen. Jedenfalls beherrschten wir diese Technik von da an in der Serienfabrikation, und die Käufer merkten es deutlich!

 

Eine andere sehr wesentliche Verbesserung betraf den Messerkopf, mit dem Bodo Fütterer viel experimentierte. Er untersuchte jenes knisternde Geräusch, das einige Rasierer von sich gaben, die besonders gut ausrasierten, und das von den Benutzern als besonders scharf empfunden wurde. Er fand heraus, daß die Messer je nach Einspannlänge zurückfederten, bevor sie das Haar abschnitten, und dann nachschwangen. Es gelang ihm, diesen Effekt zu optimieren, indem er die Messerstärke von 0,2 mm auf 0,12 mm reduzierte. Unterdessen war August Siedler unermüdlich dabei, die Fertigungstechnik zu verbessern. Wilhelm Mross und ich hatten bei einem kleinen Blechverarbeiter, wo ihre große Leistung in keiner Weise ausgenutzt wurde, zwei alte Prox-Stanzautomaten aufgetrieben. Wir überredeten ihn, uns diese Maschinen zu verkaufen. Dann trimmten wir sie mit neuen PlV Getrieben und neuer Zentralschmierung auf die Leistung, zu der sie in der Lage waren. August Siedler konstruierte Stapelmagazine, und bald konnten wir Statoren und Anker von der Stange verarbeiten, hatten viel bessere Qualität und einen wichtigen Schritt zur Automatisierung getan. Mit den hochkomplizierten Scherteilen war es ähnlich. August Siedler und ich knobelten an Möglichkeiten. Die Messer als Schüttgut zu härten, war ein Anachronismus, sie mußten vom Band direkt in die Magazine; aber glashartes Material konnten wir nicht stanzen. Wir entschieden uns für weiches Material und ließen die Messer an Punkten im Band hängen. So wurde es dann im Durchlauf gehärtet und angelassen. Zuletzt wurden die Messer ausgebrochen und in die Magazine gefüllt. Mittlerweile hatte Bev Bond in der Commerce Road in Stamford, Connecticut, eine Fertigung für Ronsonrasierer aufgezogen und uns eingeladen, alles zu besichtigen. In einem alten Reisebericht steht, daß ich Mitte April 1956 mit Elfi und Richard losflog. Damals gab es noch keine Lufthansa und keine Direktflüge. Also ging es zunächst nach Amsterdam und von dort weiter mit einer Super-Constellation der KLM. Mit Zwischenstops in Irland und Neufundland brauchten wir 16 Stunden bis New York, International Airport, der damals noch ldlewild hieß. Es mutet heute übertrieben an, daß die Fluggäste nach der Landung sitzenbleiben mußten, bis ein Sanitätsoffizier alle in Augenschein genommen hatte. Anschließend wurden Kabine und Passagiere mit DDT besprüht. Paß- und Visaformalitäten waren ähnlich rigide, und schließlich kam der Zoll. Die Einfuhr jeglicher Lebensmittel war strengstens untersagt. Einem Reisenden, offenbar mediterraner Herkunft, wurden ein paar Zwiebeln abgenommen und mit allen Zeichen der Abscheu in einen Container versenkt. Dann kamen wir an die Reihe. Ich hatte für Bev Bond einige Tüten mit metrischen Schrauben und sonstigen Kleinteilen mitgebracht, die dort schwer zu beschaffen waren. Der Zollbeamte fand sie mit sicherem Griff. Bei meiner Erklärung, daß dies Muster ohne Wert seien, wurden seine Augen immer größer, und dann mußte ich mir die typisch amerikanische Belehrung anhören: ,,Everything has any value!". Das leuchtete mir ein, und ich entrichtete pflichtgemäß meine Abgabe. Mr. Duff, der geholfen hatte, die Verbindung zu Ronson herzustellen, und seine Gattin trafen wir am nächsten Morgen im Hotel Waldorf Astoria, damals für Europäer geradezu ein Pflichtaufenthalt. Die beiden zeigten uns die Stadt. Alles war unerhört beeindruckend. Besucher, insbesondere europäische, konnte man daran erkennen, daß sie immerfort nach oben schauten, was ein New Yorker gewiß nicht tat.


Central Park, Empire State Building, Rockefeller Center, zwischendurch mal ein Coffee Shop oder ein Self Service, abends ein Besuch in Radio City Music Hall; es war eine wunderbare Stadt damals, sogar noch mit einer gewissen Beschaulichkeit, und nicht der Hexenkessel von heute. Dann ging es nach Stamford, Connecticut. Bev Bond hatte diesen Ort für seine neue Produktion gewählt, obwohl, oder vielleicht gerade weil die Schick Shaver Corp. hier einmal ihre Rasiererfabrik hatte, von der Max Braun, wie ich mich erinnerte, so beeindruckt war. Wieviel anders war es hier als in New York, von dem die Amerikaner sagen, daß es nicht Amerika ist. Wir wohnten im Roger Smith Hotel, einem alten, unerhört sympathischen Backsteinkasten, der heute leider nicht mehr steht. Da roch es so typisch, wie es nur in Neu-England riechen kann. Wir genossen die Breakfasts mit frischgemachten Pancakes, Maple Sirup und rosa Grapefruits. Eine uralte, zierliche Dame, die am Nachbartisch jeden Morgen zum Frühstück ein riesiges, über den Tellerrand ragendes Rippenstück vertilgte, imponierte uns gewaltig. Bev Bond und seine Frau Edna hatten ihr Heim in Wilson Point, wenige Minuten vom Long Island Sound. Wir fühlten uns dort bald wie zu Hause. Bev hatte uns zu Ehren sogar Münchner Bier beschafft. ln den nächsten Tagen sollten wir sehen, wie man unseren Rasierer in den U.S.A. herstellt. Etwas Interessanteres kann man sich für einen Techniker kaum vorstellen, waren uns doch die Staaten damals in know how und Produktionsverfahren weit voraus. ln der Commerce Road begrüßte uns Bev's Mannschaft. Da waren u.a. Arthur Riley für Verwaltung und Einkauf, Heinz Werner, der Konstrukteur, und Jim Schnapp, der Werkzeugmacher. ln einem gemieteten, ebenerdigen Flachdach-Gebäude waren Büros, Montage und Lager untergebracht. Maschinen sah man kaum. Wie in den USA üblich, wurde viel von hochspezialisierten Lieferanten bezogen. Die Fließbänder waren unseren ähnlich, die Arbeitsplätze aber schulbankartig angeordnet. Doch zunächst hielt Bev Bond eine besondere Überraschung für uns bereit. Stolz zeigte er uns seine neueste Version unseres Rasierers, den Jim Schnapp und Heinz Werner unter seiner Leitung deutlich verbessert hatten. Im Scherkopf-Rahmen, jetzt aus verchromtem Metall, hatten sie einen zusätzlichen Langhaarschneider Untergebracht, der, je nachdem wie man den Rahmen aufsetzte, ein- oder ausgeschaltet war. Bodo Fütterer und ich hatten viele zurückliegende Monate am Schneiden langer Haare geknobelt, sogar schon an einen zweiten aufsteckbaren Kopf gedacht, aber keine so elegante Lösung gefunden. Bev und seine Männer erhielten uneingeschränktes Lob. Ihre Lösung wurde dann später, diesmal von uns verbessert, in unserem neuen ,,Combi" übernommen. Bev Bond hatte noch weitere Verbesserungen eingeführt: So waren die Spulen im ,,paper section"-Verfahren hergestellt, bei dem bis zu 12 Spulen gleichzeitig und unter Einschuß von dünnem Papier zwischen jede Lage gewickelt werden. So entsteht ein regelrechter Stab, der dann auf einer Kreissäge zwischen den Wicklungen aufgetrennt wird. Zuerst tat es uns weh, wie in diese empfindlichen Gebilde hineingesägt wurde, aber es war ja ein in USA übliches, bewährtes Verfahren, das von Prüfbehörden wie ,,Underwriters Laboratories" vorgeschrieben war. Die Gehäuseschalen wurden erstmals aus Thermoplastik im Spritzguß hergestellt. Es hat noch Jahre gedauert, bis wir solche Thermoplastik-Gehäuse einführten. Das hing mit Konservativität, aber auch mit der unzureichenden Qualität der deutschen Kunststoffe zusammen. Bev hatte sich auch ein Etui aus Polyäthylen ausgedacht, in dem Rasierer und Schnur standen. Über das ganze wurde eine Kappe gesteckt und mit einem Druckknopf befestigt, der in eine biegsame Lasche des Unterteils genietet war. Eine preiswerte, sehr elegante Lösung. Die Montage der Rasierer lief gerade an; es war noch nicht viel zu sehen. Trotzdem beeindruckten Richard Rohlf und mich die vielen kleinen Arbeitserleichterungen, die typisch amerikanischen Kniffe. So zum Beispiel eine Halterung für Sicherungsscheiben, die nicht, wie bei uns, wirr durcheinander lagen. Mit einem Spezialwerkzeug konnte man sie ganz leicht von einem Magazin, auf dem sie auch angeliefert wurden, entnehmen. Alles Dinge, die in einer Massenproduktion viel Zeit sparen. Für die nächsten Tage hatte Arthur Riley Besuchstouren zu den Lieferfirmen zusammengestellt. Da wurde es dann richtig interessant. Zunächst besuchten wir eine Firma, die sich auf das ,,paper section"-Wickeln von Spulen spezialisiert hatte. So ein Betrieb sah schon ganz anders aus als bei uns in Deutschland. Andere Maschinen, ganz andere Einrichtungsgegenstände und Farben, die Menschen anders gekleidet, die häufige Verwendung von Handschuhen, Schutzbrillen und anderen Schutzvorrichtungen, wenig Tageslicht in den Räumen, aber viel helles Kunstlicht. Das Arbeitstempo nicht höher als bei uns, aber vieles effektiver und besser durchdacht, kein Wunder bei den Dollarlöhnen. Ein Dollar kostete damals immerhin DM 4,20. Jim Schnapp hatte früher bei Elektrolux in Ridgemont gearbeitet und vermittelte uns dort die Besichtigung einer hochmodernen Staubsaugerfabrik, deren Automatisierungsgrad uns tief beeindruckte; da wurde uns klar, wieviel wir noch aufzuholen hatten. Dann besuchten wir die Firma ,,Victor Cable", die die Netzkabel der Rasierer herstellte. Von der Kabelummantelung mit Strangpressen über die Konfektion auf hochmodernen Leesona-Automaten bis zum Anspritzen von 20 Steckern gleichzeitig war alles durchrationalisiert. Wo unser Kabellieferant froh war, die Litze auf einer 1 kg-Rolle zu bekommen, liefen bei Victor endlose Litzen auf großen Trommeln von -zig Kilo Gewicht, die ein langes, störungsloses Arbeiten ermöglichten. Von den amerikanischen Zulieferbetrieben wurde mehr verlangt, und sie boten auch mehr als unsere, die gesamte Infrastruktur war besser. Besonders beeindruckend war ein Besuch bei ,,Magnetic Metals". Dort stanzte man die Stator- und Ankerbleche auf Hochleistungsautomaten mit Hartmetallwerkzeugen, von denen wir nicht einmal zu träumen wagten. Die Werkzeugmacher, die solche Kunstwerke herstellen konnten, waren schon sehr alt, und irgendwie hatte man den Eindruck, daß es mit dem Nachwuchs haperte. ln den U.S.A. gibt es ja keine Facharbeiterausbildung wie in Deutschland. Ein Tag war für die Besichtigung einer neuen Ronsonfabrik geplant, die sich gerade im Bau befand. Mit einer Cessna flogen wir von White Plaines mitten über New York nach Straudsburg am Delaware Water Gap. Der Pilot, ein Schrank von einem Mann, entschuldigte sich jedesmal, wenn wir in einem Luftloch durchsackten. Schon der Rohbau des Fabrikgebäudes war beeindruckend. So mußte lndustriearchitektur sein! Thomas und ich arbeiten heute gern zusammen auf diesem Gebiet. Unsere Reise ging weiter nach Detroit, wo wir Greenfield Village und die weltberühmte River Rouge Fabrik von Ford, eine ganze Industriestadt voller unglaublicher Eindrücke, besichtigten, und dann weiter nach Chicago. Dort trafen wir Erwin, Fritz und Hans Gugelot, die inzwischen über Californien gekommen waren. Sie hatten den bekannten Designer Charles Eames besucht und sich nach Produkten in modernem Design umgesehen. Richard und ich nutzten noch die Gelegenheit, ,,Major Appliances Park" von General Electric in Louisville,' Kentucky, zu besuchen, wo es uns endgültig die Sprache ver schlug. So etwas gab es im guten alten Europa nicht, wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Am Ende der Besichtigung wurden wir Europäer unter Absingen des Liedes ,,My old Kentucky Home" zu Ehrensheriffs ernannt. Mit dem Flugzeug kamen wir kurz vor einem Hurricane bei 24°C nach Chicago zurück. Bei unserem Abflug am Morgen waren 10°C Frost. Wir schleppten uns in eine kleine Kneipe zu einem kühlen Bier. Es waren herrlich erlebnisreiche Tage in Amerika. Die ,,lndependence", ein mittelgroßes Passagierschiff, das damals noch Atlantikdienst versah, brachte uns von New York nach Neapel, von wo es weiter nach Turin und lvrea ging. Wir konnten dort die hochmodernen Anlagen von Necchi und Olivetti besichtigen. Alles war aufregend interessant. Und schließlich kam das dicke Ende: Unsere Reisegruppe zog sich in Italien eine Lebensmittelvergiftung zu, unter deren Folgen wir noch viele Jahre zu leiden hatten. Zu Hause berichtete ich von den vielen Eindrücken und Anregungen der Reise. Bodo Fütterer ging daran, den Bondschen Langhaarschneider zu verbessern. Leesona-Wickelmaschinen für das paper section winding wurden geordert, und Richard Rohlf richtete in Walldürn eine komplette Kabelfabrik nach amerikanischem Muster ein. Konstruktion, Arbeitsvorbereitung, Einkauf und Bau der Werkzeuge dauerten ein Jahr. Erst im Mai 1957 konnte unser neuer DL5 mit Langhaarschneider unter dem Namen ,,Combi" auf den Markt kommen. Neue Modelle brauchen ihre Zeit. Wir hatten z.B. die verchromten Metallrahmen einer bedeutenden deutschen Spezialfirma für galvanisierte Druckgußteile in Auftrag gegeben, und das Resultat war niederschmetternd, die Teile waren völlig unbrauchbar! Daraufhin stellte unser Werkzeugbau in Sonderschichten eigene Werkzeuge her, eine Warmkammermaschine mußte beschafft und installiert werden, und schließlich verchromte unsere Galvanik die Teile. Es war die reinste Hektik. ln Wochen mußten wir nachholen, was ein schlampiger Lieferant in Monaten versäumt hatte. Die gute Zusammenarbeit zwischen Bodo Fütterer, Ernst Kunz, August Siedler und den vielen anderen machte es möglich, binnen Wochen eine neue Technologie einzuführen. Jedenfalls kam unser neuer Combi sehr gut an. Wieder ein Meilenstein war geschafft. Auch die Formgestaltung, damals noch unter persönlicher Leitung von Fritz Eichler hatte hervorragend gearbeitet. Alles war frisch und modern. Sogar das Bond'sche Etui war neu gestaltet und nicht mehr wiederzuerkennen. Es waren Sternstunden der Zusammenarbeit zwischen Formgestaltung und Technik, nicht die geringste Anregung wurde abgetan, jeder ging bereitwillig auf den anderen ein. Fritz Eichler, immer auf Ausgleich bedacht, führte vorbildlich Regie, und die persönliche Zuneigung zwischen uns beiden überbrückte die sonst übliche Kluft zwischen den so verschiedenen Disziplinen. Von Wilhelm Wagenfeld, Herbert Hirche, Hans Gugelot und Otl Aicher kamen so starke Impulse, daß sich das ganze Unternehmen im Aufbruch befand. Es war eine aufregende Zeit damals. Auf der lnterbau in Berlin fanden unsere modernen Rundfunkgeräte starke Beachtung, die XI. Triennale in Mailand bescherte uns den ersten Grand Prix, und auch auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 waren wir hervorragend vertreten. Unser Combi verkaufte sich so gut, daß unsere Hauptsorge wieder einmal war, ausreichende Mengen herzustellen. Richard Rohlf und August Siedler waren in ihrem Element. An jeder Ecke wurde rationalisiert und automatisiert. ln Walldürn entstanden ganze Fertigungsstraßen für die Nachbearbeitung der Gehäuse. Mit Vielspindelmaschinen wurden sämtliche Bohrungen der Metallrahmen oder Aluchassis in einem Arbeitsgang hergestellt. August Siedler und ich nahmen uns die Scherblätter vor. Sie wurden immer noch in vielen einzelnen Schritten gelocht, mit Handsteuerung. Wir übertrugen den komplizierten Bewegungsablauf auf eine präzise geschliffene Kurvenscheibe, die bei jedem Hub der Presse um einen Schritt weitergedreht wurde. Das funktionierte und war unglaublich schnell. Die Frauen brauchten nur noch die Blätter einzulegen. Heinrich Graichen, unser Formenkonstrukteur, entwickelte eine Spritz-Preßform für die Schwinghebel, die ein Nachschleifen überflüssig machte; sie wurden wegen der von VDE vorgeschriebenen doppelten Isolation schon bald aus Preßmasse hergestellt. Bei Bodo Fütterer konzentrierten sich all diese Fragen. Seine Entwicklungsabteilung hielt die Fäden in der Hand. Die gesamte Fabrikation war angewiesen, nichts zu ändern, was nicht zeichnungsmäßig erfaßt und auf Herz und Nieren geprüft war. So trat die Weiterentwicklung etwas zurück, zumal wir parallel zu den Rasierern das gesamte Küchenmaschinen-, Radio-Phono- und das neu hinzugekommene Fotoprogramm überarbeiteten. Wilhelm Biegler war mit seiner neueingerichteten Planungsabteilung dabei eine entscheidende Hilfe.


Erst im Oktober 1958 konnte man unseren Combi auch in einem hübschen Lederetui kaufen und ab Januar 1959 seinen kleinen Bruder, den Standard, ein sehr einfaches Gerät ohne Langhaarschneider, eigentlich mehr als Nachfolger für den S50 gedacht, dessen Produktion schon lange eingestellt war. Interessanterweise hatte er noch eine ganze Reihe von Anhängern, die mit seiner Scherblattbefestigung gut zurechtkamen und die Möglichkeit, das Blatt nach eigenem Gutdünken aufzuspannen, sehr schätzten. Um diese Zeit näherte sich unser Gesamtumsatz der 100 Mio DM Grenze, und über 3000 Mitarbeiter wurden beschäftigt. Überall mangelte es an Platz, und das war ganz gut so, denn sonst hätte sich die Belegschaft noch schneller vergrößert. Schon im September 1958 hatten wir für unsere weitere Expansion ein großes Gelände im Taunusstädtchen Kronberg erworben. Erika Andreae, eine nette, erfahrene Maklerin, die mir ein Privatgrundstück vermittelt hatte, machte mich darauf aufmerksam. Meine Verhandlungen mit Bürgermeister Jacobi waren angenehm und erfolgreich. Kronberg ist später Firmensitz geworden. Am 1. Juli 1959 wurden Werner Dube, Kaufmann und Liebigschüler, und Dr. Ing. Kurt Georg - er kam von Kienzle - zu Direktoren ernannt. Damit deutete sich ein gewisser Rückzug von Erwin und mir aus dem kräftezehrenden Alltagsgeschäft an. Unsere hektische Expansion traf auf erste Marktsättigung, nicht nur im Inland. Der Riesenbedarf der Nachkriegszeit war einigermaßen gedeckt, zuerst bei den Rundfunkgeräten, vor denen schon Max Braun wegen ihrer zyklischen Absatzkrisen großen Respekt hatte. Wir versuchten, mit neuen, mehr technischen Hi-Fi Geräten eine Marktnische zu finden.


Auf das Massengeschäft hatten sich zu viele Hersteller gestürzt, und unsere modernen Holzgehäuse hatten uns nur eine Verschnaufpause beschert. Hans Gugelot war von dieser Wendung, die er mitangeregt hatte, begeistert. Endlich waren unsere Rundfunkgeräte keine Möbel mehr, sondern technische Geräte! Ganze Systeme von Verstärkern, Lautsprechern, und Abspielgeräten, zum Teil in getrennten Gehäusen, wurden entwickelt. Das kostete viel Zeit. Damit unser - man kann es ruhig sagen - profitabler Rasierer nicht zu kurz kam, ging Bodo Fütterer jetzt an die Entwicklung eines neuen Modells, das er gründlich und mit viel Geschick durcharbeitete. Es sollte dann SM3 heißen. Nach den Vorstellungen der Formgestaltung, jetzt unter Leitung von Dieter Rams, unterzog Gerd Müller das dickbauchige Gehäuse des Combi einer Schlankheitskur. Fritz und mir lag das neue Gerät sehr am Herzen, und weil die Formgestaltung damals noch über keinen ausreichenden Maschinenpark verfügte, hatten Gerd Müllers Modelle nicht die Präzision, die sie zu einer vernünftigen Beurteilung brauchten. Wir trafen uns daraufhin oft an einer Kopierfräsmaschine im Werkzeugbau, wo wir die komplizierten Radien, die Bodo Fütterer inzwischen konstruiert hatte, auf einen Kunststoffblock übertrugen. So entstand die Form des SM3, der später die Grundlage für unseren berühmten Sixtant werden sollte. Bodo Fütterer achtete darauf, daß der Antrieb, anders als beim Combi, jetzt symmetrisch angeordnet war. Dann nahm er sich das Mitnahmeplättchen vor, das Anlaß zu vielen Reparaturen gab. Dem Grundsatz folgend, daß ein Teil nicht zu viele Funktionen erfüllen soll, teilte er es in zwei Kunststoffteile, die elegant ineinanderschnappten, und auf die der Messerkopf wie ein Druckknopf aufgesteckt wurde. Das ist bis heute so geblieben. Dann wurde der Messerkopf verbessert. Er war jetzt nach unten offen, damit die Haarstoppeln besser herausfallen konnten und die Lücken zwischen den Messern weniger verstopften. Leichter wurde der Messerkopf dadurch auch, ein sehr graziles Druckgußteil. Der Schalter bestand jetzt nicht mehr aus lose eingelegten Teilen, sondern wurde ein komplettes Bauteil, das den Prüfvorschriften besser entsprach. Im Spätjahr 1959 kam der SM3 auf den Markt. Er wurde Sieger in vielen Warentests. Eines der ersten Modelle hatte ich auf einer Amerikareise Bev Bond gezeigt. Er war so beeindruckt wie wir damals von seinem neuen Gerät mit dem Langhaarschneider. Die Leistung unserer Rasierer war jetzt so gut, daß immer schwerer zu beurteilen war, ob Änderungen noch eine Verbesserung bedeuteten. lrgendjemand brachte die Idee eines künstlichen Bartes auf, mit dem unter gleichbleibenden Bedingungen getestet werden konnte. Also nähten wir mit einer Spezial-Nähmaschine Nylonfäden in Bänder aus Weichplastik. Das funktionierte ganz gut, die abgeschnittenen Haare wurden gezählt, nachdem der Rasierer über das Band geführt worden war. Schließlich wurden aber Testgruppen gebildet in denen Mitarbeiter verschiedenster Haar- und Hauttypen die Geräte nach bestimmten Kriterien benutzten und anschließend Testbögen ausfüllten. Unser Werksarzt, mein lieber, alter Freund Dr. Fritz Bode, ließ Rasierstaub sammeln, den er dann mikroskopisch untersuchte, teils in polarisiertem Licht, um Materialspannungen festzustellen, wie sie entstehen, wenn die Haare gequetscht werden. So arbeiteten wir ständig daran, die Qualität zu steigern. Eines Tages legte mir der Einkauf Scherblätter aus Nickel auf den Tisch, die galvanoplastisch hergestellt waren. Ein Produzent von Mikrosieben hatte sie uns angeboten. Sie hatten schlechte Schneidkanten und keine ausreichende Härte, waren aber trotzdem eine unangenehme Überraschung: Da machte eine ganz andere Technologie unserer hochentwickelten Stanztechnik Konkurrenz, in die wir so unendlich viel Mühe gesteckt hatten. Kein schöner Gedanke, aber wir mußten uns mit dieser neuen Technik auseinandersetzten, die möglicherweise unsere Stahlblätter überflüssig machte. Hagen Gross nahm sich der Sache an. Er bildete eine Arbeitsgruppe, der Bodo Fütterer, Galvanik-Leiter Blume, Physiker Claus Cobarg, Physiko-Chemiker Dr. Karl Schölzel sowie Reprotechniker und Siebdrucker angehörten. Sie trafen sich wöchentlich und erteilten jedem die Aufgaben, die er bis zum nächsten Mal zu erledigen hatte. So wurde lange experimentiert, um geeignete Matrizen herzustellen und vor allem dem galvanisch abgeschiedenen Material ausreichende Härte zu geben. Die Nickelblätter sahen gut aus und waren völlig korrosionsfest, rasierten aber längst nicht so gut wie unsere alten Stahlblätter. Ich wußte manchmal nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Nachdem Monate vergangen waren, wies mich Bodo Fütterer darauf hin, daß er und andere aus der Gruppe einen erfolgversprechenderen Weg vorgeschlagen hatten, sich damit aber nicht durchsetzen konnten. Dieser Weg wurde daraufhin beschritten und führte nicht sofort, aber nach einiger Zeit, zu sehr brauchbaren Ergebnissen. Schade für unser schönes Stahlblatt. Jetzt waren Lochformen möglich, an die beim Stanzen nicht zu denken war. Bodo Fütterer hatte sich ein Wabenmuster mit welliger Feinstruktur ausgedacht, das bei guter mechanischer Festigkeit vorzüglich rasierte. Sogar eine Schneidkantenerhöhung war möglich. Unterdessen hatten sich Erwin und Fritz Gedanken darüber gemacht, wie unser Rasierer in eine höhere Qualitätsklasse gelangen könnte. Erwin, dem mattschwarze Bestecke aus Skandinavien so gut gefielen, sprach über dieses Thema auch oft mit Hans Gugelot. Gütsch nahm den Gedanken auf und drückte eines Tages - Mitte 1961 muß es gewesen sein - Erwin ein Muster in die Hand, mit strichmattem, schwarzem Kunststoffgehäuse. Es gefiel uns allen so gut und sah so exclusiv aus, daß wir diesen Vorschlag von Gütsch dankbar übernahmen. Die matten Oberflächen machten nicht mehr die Schwierigkeiten wie vor Jahren, es gab jetzt neuartige Schleifbürsten und Schleifschwämme, mit denen man gut arbeiten konnte. Alles traf sich in glücklicher Weise mit unseren gerade fertigen Nickelscherblättern in einem neuen Modell, das den einprägsamen und sehr bekannt gewordenen Namen ,,Sixtant" erhielt, in Anlehnung an die vielen kleinen Sechskantlöcher des neuen Blattes. 1961 sollte wichtige Veränderungen bringen. Wir waren auf zu vielen Gebieten tätig, und die stürmische Expansion der vergangenen Jahre fing an, unseren Familienbetrieb zu überfordern. Erwin und ich reagierten auf den ständigen Streß mit gesundheitlichen Problemen. Trotz der zusätzlichen Belastung, die das bedeutete, beschlossen wir, unsere OHG, in der wir beide noch immer mit unserem gesamten Privatvermögen hafteten, in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Erwin kümmerte sich um die zeitraubenden, komplizierten Gründungsformalitäten, und Ende 1961 wurde unter Federführung des berühmten Gesellschaftsrechtlers Boesebeck unser Familienunternehmen eine AG, in der Erwin und ich noch alle Stimmrechte hielten. Anfang 1962 ging Erwin in den Aufsichtsrat, weil er die zermürbende Alltagshektik nicht mehr ertragen konnte, und mir blieb nichts anderes übrig, als den Vorsitz im Vorstand zu übernehmen, trotz meiner angeschlagenen Gesundheit. Gelegen hat mir das alles nicht, wie viel lieber hätte ich an technischen Problemen gearbeitet. Zum Glück standen mir Dr. Rudolf Gros und Albrecht Schultz zur Seite und vor allem mein treuer Freund Ferdinand Simon, als persönlicher Berater, Anwalt und Wirtschaftsprüfer. Um so mehr freute mich, daß unser Sixtant gerade jetzt auf den Markt kam. Seine Produktionsvorbereitungen waren parallel zu unserer AG-Gründung gelaufen. Nicht zuletzt dank massiver Werbeaktionen, die Albrecht Schultz schließlich durchgesetzt hatte, machte er wirklich Furore. Alle Werbemittel waren streng sachlich nach Ulmer Muster gestaltet, atmeten Präzision und Zuverlässigkeit. Und unser Sixtant war ein vortrefflicher Rasierer, der in vielen Tests immer mit Bestnote abschnitt. Mit ihm war uns ein entscheidender Durchbruch gelungen. Im März des gleichen Jahres überreichte uns der italienische Botschafter in Anwesenheit von Vizekanzler Ludwig Erhard den ,,Goldenen Zirkel", diese so berühmte Auszeichnung für modernes Design.

 

ln Marktheidenfeld war eine großzügige Produktionsstätte für Haushaltsgeräte entstanden, in Kronberg eine moderne Shedhalle für den Kundendienst, viele Auslandsniederlassungen waren gegründet worden, im März 1962 die altangesehene Filmkamerafirma Nizoldi und Krämer in München und der spanische Hausgerätehersteller Pimer erworben worden. So hatte unser Wachstum seine eigene Dynamik entfaltet, und die Produktpalette war viel zu breit geworden für unsere alte Organisation, bestehend aus einer technischen und einer Vertriebsleitung. Undenkbar, da alles durchzuschleusen. Erwin hatte viel über diese Probleme nachgedacht, und wir gingen daran, unter dem Vorstand vier Artikelbereiche zu bilden: Rasierer unter Albrecht Schultz und Bodo Fütterer, die Haushaltsgeräte unter Hagen Gross, Karl Buresch für Rundfunk und Ernst Krull für Foto. So bekam unsere AG eine schlankere Form, wie man heute sagen würde, mit kürzeren Wegen in den Bereichen und einer besseren Kostenstruktur. Es war auch nicht leicht, das Wachstum der Belegschaft in Grenzen zu halten, und so ergab eines das andere. Man denkt immer, man schiebt, und dabei wird man geschoben. Damit bei dieser Hektik unser Rasierer nicht wieder ins Hintertreffen geriet, und weil sich damals eine beginnende Nachfrage nach ,,schnurlosen" Geräten abzeichnete, ging Bodo Fütterer an die Entwicklung eines netzunabhängigen Rasierers. Erwartungsvoll tauften wir dieses Gerät dann auf den Namen ,,Commander", aber ein großer Erfolg war ihm nicht beschieden. Es lag nicht nur an den Nickel-Cadmium Akkus von Varta, deren Ventile laufend undicht wurden. Zu viele Leute hatten darin herumgeredet, und auch unsere sonst so sparsame Formgestaltung war über das Ziel hinausgeschossen: Durch zusätzliche Griffplatten wurde das Gerät wesentlich plumper als erforderlich. Ich will damit nicht sagen, daß ich es besser gemacht hätte, wenn ich damals mehr Zeit gehabt hätte. Es kann auch damit zusammenhängen, daß ein kleiner Rasierer formgestalterisch nicht so viel hergibt wie eine große Hi-Fi Anlage, es geht bei ihm halt um winzige Radien und Proportionen, mit denen nicht viel Staat zu machen ist. Anfang 1963 verließ ich meiner Gesundheit zuliebe den Vorstand, in dem Dr. Gros jetzt den Vorsitz übernahm, und wechselte in den Aufsichtsrat. Leider war ich damit meinem Lieblingskind, dem Rasierer, noch entfernter, zumal Bodo Fütterer in die Schweiz ging, um dort eine Produktion galvanischer Scherfolien aufzubauen. Die Hauptlast mußte also weiterhin der Sixtant tragen, der sich hervorragend bewährte und einen Umsatzrekord nach dem anderen aufstellte. Weil die eigene Entwicklung neuer Geräte mit den durch unser neues Design eröffneten Verkaufsmöglichkeiten nicht Schritt halten konnte, fingen wir an, Fremdgeräten eine Art Braun-Design überzustülpen und sie dann in unser Vertriebsprogramm aufzunehmen. Dem Umsatz, der bald die 100 Mio-Grenze überschritt, hat das geholfen, nur wie es mit dem Gewinn aussah, war nicht so leicht festzustellen. Daß bei unserem Expansionsdrang die innerbetriebliche Kostenrechnung nicht Schritt hielt, liegt nahe, und als Hagen Gross sogar Feuerzeuge und Geschirrspülmaschinen ins Programm aufnehmen wollte, da mußte ich überstimmt werden. Mir mißfiel, in welcher Weise wir uns verzettelten, während man sich um den Rasierer viel zu wenig kümmerte. Und dort waren keine großen Würfe mehr zu vermelden, außer einem ab- und zuschaltbaren Langhaarschneider im neuen Sixtant S, dessen Form Richard Fischer verbesserte, und der ein sehr brauchbares Gerät wurde. Aber schon seine schnurlose Version war wieder ein Desaster. Heiße Widerstände schädigten die Akkus, und die Geräte mußten vom Markt genommen werden. Es hat dann lange gedauert, bis mit dem BN ein halbwegs brauchbares netzunabhängiges Gerät angeboten werden konnte. Sein Vorschalt-Trafo wies wieder einen Rundbogen auf, wie einst der heiße Vorwiderstand von Max Brauns erstem Motorrasierer. Zum Glück gingen diese Pannen in der stürmischen Entwicklung der kommenden Jahre unter: Ende 1963 waren 4600 Mitarbeiter beschäftigt, bei einem Umsatz von 145 Mio, das Hausgerätewerk in Marktheidenfeld und das Rasiererwerk in Walldürn wurden wesentlich erweitert, in der DDR imitierte der VEB Bergmann-Borsig unseren SM3, und am 27.10.1964 gingen wir mit 6 Mio Vorzugsaktien an die Börse, bei einem Umsatz von 173 Mio. Um diese Zeit war unser kleiner Rasierer Standard 2, mit Langhaarschneider, das beste Gerät in einem Japantest. Von den unzähligen Geräten der übrigen Produktpalette zu berichten, würde hier zu weit führen. Mitte 1966 stand der Rohbau unserer Zentrale in Kronberg. Es sollte das letzte Gebäude von Braun sein, an dem ich mitwirkte. Erwin und ich hatten schon lange überlegt, wie wir unser Unternehmen straffen könnten, vielleicht durch Ausgliederung ganzer Artikelbereiche. Den Rasierer wollten wir jedenfalls behalten. Ich erinnere mich noch gut an die Gespräche, die wir mit Großunternehmen, nicht nur in Deutschland, in dieser Hinsicht führten, allerdings ohne greifbare Ergebnisse. Erst im Januar 1967, als ich von der Seiseralm zurückfuhr und Erwin in Baden, in der Schweiz traf, nahmen diese Überlegungen Gestalt an. Die amerikanische Gillette Corporation hatte erneut Interesse bekundet, wie schon einmal vor etwa eineinhalb Jahren, diesmal aber wesentlich konkreter. Die Versuchung war groß, zumal es zwischen Erwin und mir nicht mehr so gut klappte wie früher, aber unsere Beziehungen waren noch so, daß wir bei einer derart schicksalhaften Entscheidung übereinstimmten. Wir sind dann in den USA gewesen, haben mit Vinzenz Ziegler, mit Colman Mockler, Paul Cuenin, Bob Perry und vielen anderen Männern von Gillette gesprochen und den Eindruck gewonnen, den bestmöglichen Partner gefunden zu haben. Die Verhandlungen und Vertragsvorbereitungen haben sich dann über das ganze Jahr hingezogen. Im Juli kam es zu einem offiziellen Übernahmeangebot. Am 19. Dezember 1967 haben Erwin und ich im schweizerischen Baden den Vertrag mit Gillette unterzeichnet. Wir sind anschließend in ein ruhiges Nebenzimmer gegangen und haben uns spontan umarmt. Er hatte auch Tränen in den Augen. Unsere Familie hat dem Unternehmen seinen Namen gegeben, und im Grunde waren wir Familienunternehmer geblieben, solche, die ganz anders als Manager mit ihrem Vermögen haften und denen man es trotzdem nicht leicht macht: Wenn sie Schiffbruch erleiden, dann haben sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt und sich keinen starken Partner gesucht, wenn sie Profite einfahren, dann haben sie jemanden ausgebeutet, und wenn sie aus eigener Kraft einer Expansion nicht mehr gewachsen sind und Anteile verkaufen, dann haben sie Kasse gemacht und ihr ,,Gesinde verscherbelt", wie man z.B. im Spiegel später in einem anderen Fall lesen konnte. Alle wissen es besser - hinterher.

 

Heute weiß ich, daß ich diese Zeilen nicht mehr schreiben könnte, wenn wir damals nicht verkauft hätten. Erwin hat sich bis zu seinem Tod immer wieder gegrämt und gefragt, warum wir damals so gehandelt haben, und dabei kann die Antwort doch nur lauten: Weil wir überleben wollten und das Unternehmen überleben sollte! Heute steht unsere Braun AG unter Gillette glänzend da, hat allen Stürmen zum Trotz sich stetig entwickelt und einen Umsatz, der fast 10 mal höher ist als bei der Übernahme. Zum Glück haben wir uns richtig entschieden, prägen Vaters und unsere Anstrengungen und die treue Mitarbeit vieler begeisterungsfähiger Menschen von damals noch immer das Bild des Unternehmens, nach mehr als 25 Jahren. Ich bin am Ende meines Berichts angelangt. Vor mir auf dem Tisch liegt ein Betriebsspiegel, auf dessen Titelseite steht, daß Max Brauns Rasierer, unser Rasierer, heute der meistverkaufte der Welt ist! Mögen ihm und unserem Werk und seinen Menschen noch lange Glück und Segen beschieden sein.

 

 

 

 

 

 

Quelle:
Braun, A.: Max Brauns Rasierer Erinnerungen von Artur Braun, Hamburg 1996. Bewahrt im Archiv von Artur Braun, Königstein/Ts

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