In den Jahren nach 1955 wurde Braun zum Pionier für konzeptionell durchdachtes Industrie-Design. Es war nicht einfach, dieses neue Konzept auf dem Markt durchzusetzen. Aber langsam stellte sich der Erfolg ein. Mehr Erfolg, als wir zu Anfang realistischerweise erwarten konnten.
Heute sind unsere Produkte weithin bekannt. Unser Design stößt auf Anerkennung. Braun wird als Beispiel zitiert. (Eine Rolle, die uns keineswegs nur Sympathien einbringt!).
Ist das Beispiel Braun nicht inzwischen etwas weniger interessant als vor Jahren - gerade weil unser Design allseits bekannt und anerkannt ist. Welchen neuen Beitrag können wir heute leisten zur aktuellen Diskussion über Design?
Unser Beitrag kann, meinen wir, in einem Erfahrungsbericht liegen. Es gibt nicht viele andere Unternehmen, die ein eigenes Design-Konzept entwickelt und mit einiger Konsequenz über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg verwirklicht haben. Es gibt nicht viele andere Unternehmen, die soweit über die Ebene der Pläne, Ansätze und Versuche hinausgekommen sind und so konkrete und spezifische Erfahrung mit Design haben wie wir.
Deshalb glauben wir, dass eine knappe, kritische Zwischenbilanz unserer Erfahrung doch Interesse finden kann. Für andere Unternehmen. Für andere Designer. Für uns alle, die wir umgeben sind von Design.
Auf den folgenden Seiten wollen wir die Aspekte kurz ansprechen, die uns in diesem Zusammenhang am wichtigsten erscheinen. In der Ausstellung werden sie jeweils durch eine Reihe von Beispielen illustriert und interpretiert.
Die unternehmerische Dimension.
Oder:
Wessen Sache ist Design?
Wir waren seit jeher davon überzeugt, dass gutes Design die Sache des ganzen Unternehmens ist - und nicht nur die Sache einzelner Designer. Diese Überzeugung hat sich im laufe der Jahre noch verstärkt.
Durchdachtes, planvolles Design wird nämlich immer voraussetzungsvoller. Es hat nichts mehr zu tun mit unverbindlicher, «künstlerisch geschmackvoller» Einkleidung eines Produkts, die ein Designer sozusagen aus dem Stand, als letztes Glied in der Kette besorgen könnte.
An jedem Produkt arbeiten viele Abteilungen mit. Fast jedes Produkt enthält eine Vielzahl von unterschiedlichen Bauteilen. Fast jedes soll viele, oft sogar einander widersprechende Funktionen erfüllen. Und dennoch soll es ein Ganzes sein. Ein Ganzes, das mehr ist als seine Teile.
Diese Synthese zu erreichen - das ist heute weitgehend die Aufgabe der Designer. Sie können diese Aufgabe nur erfüllen, wenn sie die Kompetenz haben, sich von Anfang bis Ende - von der ersten Produktidee bis zur Serienfertigung - in die Entwicklung eines neuen Produkts zu involvieren.
Wenn sie nicht isoliert, im Elfenbeinturm arbeiten, sondern einbezogen sind in eine intensive Teamarbeit. Wenn sie Impulse geben und Impulse aufnehmen können. Es ist Sache des Unternehmens, den Designern diesen Spielraum einzuräumen und ihn auch organisatorisch abzusichern. Und es ist Sache der Designer, diese Rolle auszufüllen und - auch bei Braun - immer wieder zu verteidigen.
Dass die Designer unter vernünftigen Gesamtbedingungen arbeiten, ist eine wichtige Voraussetzung für gutes Design. Aber nicht die einzige. Das Unternehmen muss auch bereit sein, das Risiko einzugehen, das in der Bemühung um gutes Design liegt. Denn mit eigenständigem und neuartigem Design ist es wie mit allem neuen: Die Erfolgschancen sind nie völlig kalkulierbar. Wenn ein Unternehmen diese Unsicherheit scheut, wird es im großen Tross derer bleiben, die langsam hinter der Entwicklung herziehen und sich mit oberflächlichem Design zufrieden geben.
Ein letzter wichtiger Aspekt: Ein Unternehmen kann Design niemals als isolierte Leistung sehen. Sorgfältiges Design wird unglaubwürdig und unwirksam, wenn die Technik ideenlos, die Fertigung unzulänglich oder die Werbung albern sind. Unsere gesamte Erfahrung spricht dafür, dass ein Unternehmen mit vager oder widersprüchlicher Gesamtstrategie kaum gutes Design realisieren und noch viel weniger auf lange Sicht damit Erfolg haben kann.
Die funktionale Dimension.
Oder:
Gibt es eine Alternative zur Brauchbarkeit?
Wenn wir den springenden Punkt unseres Design-Konzepts mit einem einzigen Begriff ausdrücken sollten, dann am ehesten mit dem der Funktionalität. Die Konzentration auf die Funktion, den Gebrauch eines Produkts im weitesten Sinne des Wortes hat unser Design geprägt und prägt es auch heute noch.
In den ersten Jahren fiel dabei besonders der rigorose Verzicht auf alle unfunktionalen, dekorativen, repräsentativen oder einfach nur willkürlichen Formen ins Auge. Braun Geräte wirkten auf viele geradezu nüchtern, kühl-asketisch.
In den zwei Jahrzehnten seither ist die allgemeine Entwicklung in die Richtung gelaufen, die wir damals eingeschlagen haben. Heute gibt es keinen ernstzunehmenden Designer mehr, der nicht «Funktionalist» wäre. Es wird nicht mehr darüber diskutiert, ob Design überhaupt die Aufgabe hat, ein Produkt möglichst brauchbar zu machen. Sondern nur noch darüber, was im einzelnen funktional, brauchbar, zweckmäßig ist.
Diese Diskussionen sind berechtigt und werden so rasch nicht enden. Zwar hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren ein Berg konkreter Design-Erfahrung angesammelt. Zwar haben sich Wissenschaften neu entwickelt, die auch das Design unterstützen. Wir z.B. die Ergonomie. Zwar ist die Technik insgesamt leistungsfähiger und flexibler geworden und macht es dem Designer oft leichter, funktionale Lösungen zu verwirklichen. Zwar haben Designer zunehmend gelernt, die neuen konstruktiven und produktionstechnischen Möglichkeiten zu nutzen - oder auch die vielen Möglichkeiten, die neue Materialien bieten. Dennoch haben wir nirgends wirklich perfekte Lösungen - geschweige denn Patentrezepte. Je mehr wir uns in die Probleme hineinknien, umso besser verstehen wir auch, wie viel noch zu tun bleibt.
Dabei hat sich für uns der Bereich, den der Begriff «Funktion» umschreibt, immer mehr erweitert. Wir haben gelernt, wie komplex und vielfältig die Funktionen eines Produkts sind. Wir wissen heute sehr gut, dass das, was wir machen, auch eine psychologische oder eine soziale Brauchbarkeit haben muss. Die Funktion hat also sicherlich sehr viele Seiten. Aber eine Alternative hat sie in unseren Augen nicht.
Die kommunikative Dimension
Oder:
Was soll Design zu verstehen geben?
Jedes Design ist immer zugleich Kommunikation: Es übermittelt Informationen aller Art. Über den Verwendungszweck eines Produkts, seine Grundkonstruktion, seine Bedienung, seine Leistung, seinen Wert usw.. Dass diese Informationen möglichst genau und leicht verständlich sind, ist im Grunde auch eine Seite der Funktionalität eines Produkts: Je besser ich es verstehe, umso besser kann ich es brauchen.
Die Aufgabe, verständliche Produkte zu gestalten, ist seit 1955 entschieden schwieriger geworden. Es werden immer mehr Produkte mit neuartiger Technik und neuartigen Funktionen entwickelt. Das einzelne Produkt soll immer mehr unterschiedliche Funktionen erfüllen. Und schließlich werden die meisten Produkte international angeboten und sollen deshalb auch international verständlich sein.
Nun ist aber die unmittelbare funktionale Verständlichkeit des Designs nur die eine Seite der Sache. Die andere ist seine Ehrlichkeit.
Design hat eine sehr starke, nachhaltige Aussagekraft. Wohl deshalb, weil es in erster Linie die tieferen, nicht rational kontrollierten Schichten des Bewusstseins anspricht. Design kann auf den ersten Blick überzeugen, anregen, verlocken - und natürlich auch lügen.
Die Erfahrung, wie verlogen Design sein kann, war 1955 einer der wichtigsten Impulse für unser neues Konzept. Wir haben uns bemüht, ehrliche Produkte zu gestalten. Es war uns natürlich klar, dass sie gerade deshalb für viele nicht besonders «ansprechend», sondern ziemlich reserviert wirkten. (Wenn sie neben anderen im Schaufenster stehen, haben sie diese Wirkung auch heute noch.) Aber das war und ist uns entschieden lieber, als wenn sie Illusionen erzeugen würden.
Es ist im laufe der Jahre für geschickte Designer eher leichter geworden, mit Design Potemkinsche Dörfer aufzubauen. Und erfolgversprechender: Die Technik lässt sich immer schwerer beurteilen. Der Käufer orientiert sich immer mehr am Design eines Produkts. Wir sind dennoch nach wie vor entschlossen, die Möglichkeiten der Manipulation durch Design nicht zu nutzen.
Warum?
Weil wir uns nicht vorstellen können, dass bewusste Täuschung der Käufer auf lange Sicht im Interesse eines einzelnen Unternehmens sein kann. Geschweige denn im Interesse der Gesamtgesellschaft.
Die ästhetische Dimension.
Oder:
Mit wieviel Chaos können wir leben?
Das ist unsere Vorstellung eines ästhetisch gut gestalteten Gebrauchsgeräts:
So zurückhaltend und unauffällig, dass man es kaum wahrnimmt, solange man es nicht braucht.
So neutral, dass es sich zwanglos in jede individuelle Umgebung einfügt.
So harmonisch und ansprechend, dass man gerne mit ihm umgeht, zum Gebrauch eingeladen wird und sich gleichsam mit ihm anfreunden kann.
In einer Weise zeitgemäß, die nichts mit kurzlebiger Mode zu tun hat und eben sowenig eine Flucht aus der Gegenwart in historische Stilformen ist.
Seit 1955 versuchen wir, unseren Produkten diese ästhetische Qualität zu geben. Das war und ist keineswegs einfach. Wir müssen immer wieder deutlich machen - auch innerhalb unseres Unternehmens - das unauffälliges, neutrales Design kein Selbstzweck ist. Kein Mangel. Sondern ein ganz konkreter Vorzug, den viele Gebraucher durchaus verstehen . Sonst hätten wir nicht so erfolgreich sein können.
Wir meinen, dass ästhetische Qualität von Produkten immer wichtiger wird. In einer normalen Wohnung finden sich heute so viele technische Gebrauchsgeräte, dass sie die Anmutung, die Atmosphäre der Wohnung nachhaltig bestimmen können. Der Konkurrenzkampf der Produzenten hat sich zudem weiter verschärft. Damit hat auch der Trend zugenommen, Produkte durch Aufsehen erregendes und lautstarkes Design zu differenzieren.
Unsere Umgebung hat einen «Kaufhauscharakter» bekommen, der kaum noch vielfältig, lebendig, anregend ist, sondern chaotisch, strapaziös, lähmend. Spektakuläres Design ist leicht. Und im Schaufenster oder in Anzeigen sicher oft «erfolgreicher» als neutrales, zurückhaltendes, ausgewogenes Design. Dennoch werden wir unsere Linie beibehalten.
Wir sehen es als wichtige - vielleicht sogar die gesellschaftlich wichtigste Aufgabe des Design, dabei mitzuhelfen, das Chaos zu lichten, in dem wir heute leben.
Die zeitliche Dimension.
Oder:
Wieviel Verschwendung können wir uns leisten?
Es gibt das böse Wort von der geplanten Veralterung - der Einführung neuer Produkte mit dem einzigen Zweck, die bisherigen (und noch durchaus funktionstüchtigen) Produkte zu entwerten, sie veralten zu lassen und die Verbraucher zum vorzeitigen Neukauf zu bewegen.
Geplante Veralterung ist geplante Verschwendung. Verschwendung von Geld, Material, Energie, Zeit, Aufmerksamkeit. Beim Verbraucher. Aber auch beim Hersteller: Die Entwicklung unnötiger Produkte ist meist keineswegs billiger als die Entwicklung nötiger Produkte.
Wo tatsächlich geplante Veralterung betrieben - oder zumindest rasche Veralterung bewusst in Kauf genommen wird - spielen die Designer oft eine Handlangerrolle. Denn mit Design lässt sich am einfachsten und billigsten der Eindruck der Neuheit erwecken bei Produkten, die in Wahrheit keine neuen Vorteile bieten.
Dem Braun Design kann man wohl kaum geplante Veralterung vorwerfen. Die Bemühung um Langlebigkeit im Design gehört mit zu den Kernpunkten unseres Konzepts. Einige Braun Produkte werden seit nahezu zwanzig Jahren fast unverändert hergestellt. Etwa die Küchenmaschine. Ihr Design hat sich offenbar nicht überlebt. Ebensowenig wie das Design vieler Braun Produkte, die nur deshalb nicht produziert werden, weil ihre Technik überholt ist.
Tatsächlich lässt sich Langlebigkeit nicht allein mit den Mitteln des Design erreichen. Sie setzt das Zusammenspiel von intelligenter Produktidee, gelungener Konstruktion, hoher Fertigungsqualität und durchdachtem Design voraus. Hier wird wiederum deutlich, dass Design nur als Teil einer unternehmerischen Gesamtleistung wirklich erfolgreich sein kann.
Umgekehrt ist auch die rasche Einführung von immer neuen, unzulänglichen und kurzlebigen Produkten sehr oft gar keine planvolle, zynische Manipulation der Käufer. Sondern einfach unternehmerische Unfähigkeit, die Probleme anzugehen und zu lösen, die sich bei der Entwicklung wirklich innovativer Produkte stellen.
Es wäre unrealistisch anzunehmen, dass wir heute schon Produkte für Jahrzehnte oder gar «endgültige» Produkte konstruieren und designen könnten. Ebenso wäre es unrealistisch zu verlangen, die Entwicklung neuer Produkte einzufrieren. Die Entwicklung ist in vollem Gange. Wie bei jedem lebendigen Prozess gibt es auch hier Umwege, Fehler, Irrtümer - und damit auch Verschwendung.
Wir halten diese Verschwendung als unbeabsichtigte Nebenerscheinung der Bemühung um wirklichen Fortschritt, um neue und brauchbarere Produkte für gerechtfertigt.
Aber niemals die Verschwendung als Selbstzweck
Quelle:
Braun AG (Hrsg.): Braun Design – eine Zwischenbilanz. Sonderduck des Beitrages der Braun AG zum Ausstellungskatalog 1. Deutscher Designertag/1977 Karlsruhe und Archiv von Artur Braun, Königstein/Ts.. In: Ordner Braun AG Andere über Braun AG Berichte, Interviews aus Zeitungen und Magazinen