Hartmut Jatzke-Wigand
 

Hartmut Jatzke-Wigand

Michele De Lucchi: “Wir Europäer besitzen eine ausgeprägte kulturelle Tradition - das Potential für Gestaltungen in Design und Architektur ...“


Auf der Mailänder Trienale 1973 provoziert Michele De Lucchi das Designestablishment noch als kostümierter "Designer in Generale". Aber schon seine Arbeiten für das Studio Alchimia überzeugen mit ihren ironischen Designzitaten und leuchtenden Farben. 1981 spielt er eine Schlüsselrolle bei der Gruppe Memphis, deren Objekte geltende Designauffassungen revolutionieren. Seit 1992 verantwortet Michele De Lucchi mit charismatischer Überzeugungskraft das gesamte Produktdesign von Olivetti. Seine innenarchitektonischen Lösungen mit Nicholas Bewick für die Deutsche Bank gelten als richtungsweisend. Michele De Lucchi: der Architekt und "Designer generale".

 

Von Hartmut Jatzke-Wigand

 

Michele De Lucchi beeindruckt mich mit seinen Arbeiten, seinen präzise formulierten ästhetischen Positionen. Gelassen, in der für Mailänder so tyischen Eleganz gekleidet, sitzt er mir gegenüber. Um uns herum Hektik, Aufgeregtheiten, denn in einer Stunde beginnt die Ausstellungseröffnung" 100 Masterpieces" im Vitra Design Museum.


Als ein "Masterpiece" der Designgeschichte gilt De Lucchis Stuhl "First". Seine Lehnenkonstruktion aus kreisförmig gebogenen Stahlrohr dient als Blickfang. Sie trägt die leuchtendblaue, gummigelagerte und deshalb flexible Rückenlehne zusammen mit zwei schwarzen Holzkugeln als Armstützen "First" wirkt dekorativ, strahlt zugleich eine visuelle Leichtigkeit aus. Weltweit berichten Publikationen über diesen Stuhl,er wird zu einen der bekanntesten Objekte der Gruppe Memphis.


Memphis: ein lockerer Zusammenschluß von Designern um Ettore Sottsass als zentralen kreativen Pol. Mit der ersten Guppenausstellung 1981 an Mailands Corso Europa gelingt ihr ein spektakulärer Publikumserfolg. Die Memphisobjekte repräsentieren eine ihnen eigenen Designsprache, sie verändern grundlegende Einstellungen zum Design.

 

Den spielerischen Umgang Michele de Lucchis mit Formen, Materialien, Oberflächengestaltungen und Farben belegen beispielhaft die Möbelobjekte "Flamingo" und "Horizon" oder die Tischlampe "Oceanic". Hier erwecken drei schwarz-weiß gestreifte Metallröhren in Verbindung mit dem rechteckigen Reflektor Assoziationen an eine Seeschlange. Zugleich bilden die einzelnen Elemente - kennzeichnend für das Design De Lucchis - ein harmonisch proportioniertes Ganzes.

 

Ettore Sottsass - ein wesentlicher Bezugspunkt De Lucchis

 

Wann lernte er den Maestro des italienischen Designs, Ettore Sottsass kennen? "Ich traf Ettore auf einer stillgelegten Eisenbahnbrücke bei Vicenza. Hier fand mit Happeningcharakter das Seminar "Progettarsi adosso" statt. Ettore holte mich darauf nach Mailand. Er verkörpert einen wesentlichen Bezugspunkt meiner ästhetischen Entwicklung."


Ich zeige Michele De Lucchi ein Photo mit ihm als verkleideter napoleonischer General - als "Designer in generale". Mit dieser Performance provozierte er 1973 auf der Mailänder Trienale das Designestablishment. Seine Antwort - ein befreites Lachen. Aber diese Aktionsform charakterisiert den Findungsprozeß des Architekturstudenten De Lucchi an der Universität Florenz - dem damaligen Zentrum der Radikal Design Bewegung. Hier gründet Michele De Lucchi 1973 die Gruppe "Carvat", formuliert seine Standpunkte zu soziokulterellen Grundlagen moderner Architektur. Endlose Diskussionen begleiten den Findungsprozeß nach einem subjektiven ästhetischen und materiellen Ausdruck. Auf Erfahrungen dieser Zeit beruhen De Lucchis ausgeprägte Fähigkeiten im Team zu arbeiten, professionell zu organisieren, sich geduldig Argumenten zu stellen und Überzeugungsarbeit für seine Auffassungen zu leisten.
1977 wechselt der Avandtgard-Architekt Michele De Lucchi in den Design Bereich. Er schließt sich der Gruppe Alchimia um Andrea Branzi, Alessandro Mendini und Ettore Sottsass an. Es entstehen lösgelöst von Produktionsinteressen experimentielle Entwürfe. Bei der Leuchte "Sinerpica" inspirieren De Lucchi Kinderspielzeuge mit ihren intensiven Farbgebungen. Wie in einem Blumentopf windet sich eine Pflanze um einen Stock, um dann in einer Blüte - der gelben Glühlampe - zu münden. "Sinerpica" versinnbildlicht ein von Reglementierungen befreites Design, belegt das große Maß poetischen Einfühlungsvermögens De Lucchis.
Avandtgardistisch, für das Publikum der Ausstellung "bau-haus 1" irritierend, wirken De Lucchis Prototypen elektrischer Haushaltsgeräte für Girmi. Bunt, lustig, leicht bedienbar verkörpern sie den Gegensatz zu gebräuchlichen Geräten mit ihren kalten,sterilen Ausstrahlungen. Der Elektrogerätehersteller Girmi scheut 1978 das Risiko einer Massenproduktion. Erst 1994 greifen Philips und Alessi in ihrer Produktserie Alessi Workshop Gestaltungsmerkmale dieser Prototypen wieder auf.

 

Produzione Privata

 

1988 verläßt Michele De Lucchi Memphis. Warum? Seine Antwort kommt zögernd: "Meine Arbeiten für Alchimia und Memphis begreife ich heute als wichtiges Experimentierfeld, gekoppelt mit Grenzerfahrungen bei meiner Suche nach einer eigenen ästhetischen Position. Diese Arbeiten sind aber nur als Ausdruck des Zeitgeistes Anfang der achtziger Jahre zu verstehen." Doch De Lucchi fehlt das Experimentierfeld Memphis. Er gründet 1990 mit Mario Rossi die "Produzione Privata". Sehr persönliche Entwürfe - Leuchten, Vasen, Holzobjekte - fertigen Handwerker in bester italienischer Tradition. Die Hängeleuchte "Machina Minima 7" besitzt die Charakteristik eines mechanischen Objekts. Sie verweist auf die Vorliebe De Lucchis für die Arbeiten des Künstlers Calder. Ein Gegengewicht erhält den Mechanismus in Spannung, sie reagiert auf kleinste Bewegungen. Nichts ist überflüssig, die Qualitäten der Formen, des Materials sind deutlich herausgearbeitet.
So auch bei dem aus massivem Holz gefertigten Kleiderständer mit der klaren, schlichten Schönheit von Shaker-Möbeln (Produzione Privata 1990). Ein Holzobjekt, das mit Würde altert. Gestaltungsprinzipien der  "Produzione Privata" fließen auch bei dem Entwurf der Poltermöbelserie "Joyce" für Moroso ein. Durch ihre einfachen Formen, der Verwendung klassischer Materialien wie Holz und Leder fügen sie sich zurückhaltend in jedes Ambiente.

 

Gestaltung von Industriedesign - die große Herausforderung

 

Seit 1992 verantwortet Michele De Lucchi das Produktdesign von Olivetti, einem führenden Anbieter von Dienstleistungen und Produkten der Informationstechnik. Olivetti gilt im Bereich des Industriedesigns als eine kulturelle Institution. Die in der Vergangenheit von Marcello Nizzoli, Ettore Sottsass und Mario Bellini gestalteten Geräte setzen Maßstäbe, sie fehlen weltweit in keinem Industriedesignmuseum.
Eine große berufliche Herausforderung für Michele De Lucchi. Er erläutert mir anhand des Notebooks  "Echos 44" grundsätzliche Gestaltungspositionen für elektronische Geräte. Es sei sein Ziel Gebrauchsgegenstände zu entwerfen, bei dem das Design nicht wie eine übergestülpte Haut erscheine, sondern integrales Bestandteil des Produktes darstelle. Dieses Ziel zu erreichen erschweren die standardisierten Elektronikbauteile, zusätzlich die sich schell verändernden Produktionszyklen. Ich frage nach der Existenz ökologischer Gestaltungsprinzipien. Unser Gespräch wird spannend, dann leider unterbrochen: die Ausstellungseröffnung beginnt. Wir verabschieden uns, beschließen ein zweites Treffen in Mailand.

 

Im Studio De Lucchi

 

Milano, Villa Pallavicino 31. Der Eingang zum Studio De Lucchi: einfach, weder herrschaftlich noch in aufdringlicher Memphisfarbigkeit. Bewußtes Understatement eines weltbekannten Designers? Einladend freundlich wirkt das geräumige Studio im ersten Stock eines ehemaligen Textilwarenhauses. Künstlerische Akzente setzen dekorative Architekturmodelle. Das qualitätsvolle Licht der Leuchte "Tolomeo" erhellt die einzelnen Arbeitsplätze.

 

Das Studio ist partnerschaftlich mit Angelo Micheli, Pio Barone Lumaga, Nicholas Bewick und Michele De Lucchi als primus inter pares organisiert. Ein Team von Personen dreißig bearbeitet hier die weltweit anfallenden Architektur - und Designaufträge. Wir setzen die im Vitra Design Museum so plötzlich beendete Diskussion fort. Michele De Lucchi zeigt zeigt einen kurzen Videofilm mit Aussagen zum Industriedesign. Energisch bezieht er Position: "Gutes Industriedesign umfaßt sämtliche Aspekte des Produkts, die der Gestaltung, der Technologie, der Produktion aber auch die der Administration. Industriedesign beruht auf Teamarbeit, es ist kein Produkt individueller ästhetischer Überlegungen."

 

Multimedia Systeme

 

Sorgfältige Designarbeit leistet Michele De Luchi bei der modular aufgebauten Reihe eines Multimedia Kiosk Systems. Olivetti entwickelt sie für Einsatzorte, bei denen Informationen in Form von Bild, Ton und Text primär von Bedeutung sind: für Bahnhöfe, Behörden, Banken, Messen oder Produktionsanlagen. Seine Designschwerpunkte für dieses System kennzeichnet De Lucchi mit den Schlagworten Ergonomie, Farbauswahl und durchdachte Detaillösungen. Es gelingen sehr ästhetische, harmonisch proportionierte Skulpturen. Und - sie verkaufen sich erfolgreich. Zuletzt orderte Mercedes Benz vierzig Multimedia Kiosk Systeme zur umfassenden Information im Werk Untertürkheim.


Mit dem interaktiven Multimediasystem Envision realisiert Olivetti die Verbindung zwischen professionellem Personalcomputer und der Welt der Unterhaltungselektronik. Michele De Lucchi berichtet von den großen Problemen in diesem kompakten Gerät sämtliche Displays, Steckbuchsen und Bedienkonsolen ergonomisch günstig, zugleich optisch ansprechend anzuordnen.Hier kann De Lucchi auf seine Forschungen über die optimierte Bedienung von Geräten zurückgreifen. Infrarot-Technologie ermöglicht die Entwicklung einer schnurlosen Tastatur. Sie liegt bedingt durch zwei Wülste wie ein Lenkrad in der Hand. Die Maustasten integriert De Lucchi griffgünstig in den oberen Tastaturrundungen. Dieser prägnante Entwurf setzt in Design und Technologie neue Maßstäbe.

 

Wir müssen in Gesamtzusammenhängen denken ...

 

Im Gegensatz zu vielen Designern betrachtet Michele De Lucchi den Gebrauch moderner Technologien nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang. Das schließt natürlich ein großes Interesse für innenarchitektonische Details mit ein. 1992 konzipiert er für die Teppichkollektion "Vorwerk 2" - weitere Beiträge leisten u.a. Oskar Tusquets, Ettore Sottsass und Hans Kohlhoff - konkrete Raumkonzepte mit Anwendungsbeispielen für den öffentlichen und privaten Bereich. Michele De Lucchis Teppichdekor erscheint weicher als als seine Entwürfe für Memphis. Unregelmäßige Formen wirken wie fallengelassene, zerknüllte Papierteile. Es gelingt De Lucchi eine vorläufige Zufälligkeit, eine Spontanität auszudrücken. Treffend bezeichnet er diese Pattern als "Flying confetti".


Wie stellt er sich den Büroarbeitsplatz der Zukunft vor? Ein Arbeitsplatz voller Leben mit inspirierender Atmosphäre für Konzentration und Entspannung. Dazu bedarf es flexibles Mobiliar, offene Zonen. Beispielhaft variiert De Lucchi 1994 seine Grundvorstellungen in der Ausstellung "Citizen Office" des Vitra-Designmuseums. International organisierte workshops dienen dem profunden Meinungsaustausch über zukunftsorientierte Designlösungen. De Lucchi: "Wir müssen als Designer die Gesellschaft für eine international zu führende Debatte über das Design, über die Architektur, über die Gestaltung öffentlicher Räume aufschließen."

 

Innenarchitektur für Banken

 

Zusammen mit Nicholas Bewick konzipiert Michele De Lucchi die Innenarchitektur automatisierter Zweigstellen für die Banco Portugues do Atlantico, realisiert Neukonzeptionen für Filialinnenarchitekturen der Deutschen Bank. De Lucchi: "Eine schwierige Aufgabenstellung. Eine Bank sollte Transparenz, Freundlichkeit, Offenheit ausstrahlen aber zugleich auch Sicherheit, Intimität, Abgeschlossenheit." Michele De Lucchi und Nicholas Bewick vereinen diese Gegensätze mit ihren innenarchitektonischen Konzepten. Ihre für die Deutsche Bank gestalteten Filialen erscheinen bedingt durch raffinierte Raumaufteilungen, Verwendung natürlicher Materialien und optimierter Lichtgestaltung hell und offen. Sie strahlen die gewünschte kundenfreundlichkeit aus, sie wirken identitätsstiftend. Perfekt gelingen dem Team die Besprechungsräume: große, verglaste Schiebetüren trennen sie vom Schalterraum, sie bleiben aber innenarchitektonisch in dem Gesamtbereich integriert. Die geforderte Abgeschlosenheit der Besprechungsräume gewährleisten matte, sandgestrahlte Bereiche der Verglasung.

 

 

Quelle:
Jatzke-Wigand, H.: Michele De Lucchi: "Wir Europäer besitzen das Potential für Gestaltungen in Design und Architektur." In: wohnrevue 7/95, Schlieren 1995, 64-70

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