Mario Bellini: 1935 geboren, Studium der Architektur am Politecnico di Milano, Professor am berühmten Institut für Industriedesign in Venedig, Professor an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, Arbeiten als Designer für Olivetti, Cassina, B & B, Vitra, Brionvega, Yamaha, Lamy, Erco, Artemide, Fiat, Poltrona Frau, Zojirushi. Seine Architektur ist weltweit vertreten. Er war langjähriger Chefredakteur von «Domus». Das Museum of Modem Art in New York veranstaltet ihm zu Ehren eine Sonderausstellung, er erhält zahlreiche Auszeichnungen: sechs «Compasso d'Oro», den «Annual Award», die Goldmedaille von Ljubljana und den «Made in Germany»-Preis. Mario Bellini - wo sind die Grenzen seines Schaffens?
Ein kurzer Fussweg führt von der Galleria Vittorio Emanuele über die Piazza del Duomo zum Corso Venezia 11. Durch die grosse, mit beeindruckenden Arabesken verzierte schmiedeeiserne Tür gelangen wir zum Eingang des erzbischöflichen Seminars. Hier residiert Mario Bellini mit seinem mehr als 50 Architekten und Designern umfassenden Team in einem weitläufigen Flügel. Mario Bellinis Privatbüro: eine klassisch italienische, fast meditativ anmutende Atmosphäre. Die von ihm entworfenen Möbel bestimmen das Ambiente, so die ledernen Stühle «Cab» und «Break» von Cassina, zwei grosse, aneinandergestellte Marmortische «Colonnato», deren schwere Tischplatten auf massive Marmorsäulen gründen. Alle Objekte sind Ausdruck einer Designphase, die Ende der siebziger Jahre durch die Verwendung natürlicher Materialien geprägt ist.
Mario Bellini erscheint, gekleidet mit der für Mailand so typischen zurückhaltenden Eleganz, mit schnellem Schritt, agil und wendig. Woher nimmt er bei diesem riesigen Arbeitspensum nur die Kraft? Wir tasten uns vor: Welche Erfahrungen prägen seine Berufslaufbahn? Natürlich die Tätigkeit bei Olivetti. Viele Geräte der Mikroelektronik besitzen noch nicht die ihnen angemessene, durchgestaltete Form - damals die Lebenschance für den jungen Designer. Zusätzlich die kreative Reibung mit dem Leiter der Abteilung: Ettore Sottsass. Mario Bellini schreibt für Olivetti Designgeschichte: Umsetzen ergonomischer Erkenntnisse bei dem «TVC 250 Video Terminal», Anwinklung der Tastaturen und pultförmiger Aufbau bei den Tischrechnern «Logos 50/60» oder «Divisumma 28», Gestaltung der neuartigen elektronischen Schreibmaschine «ET 111». Die Designmuseen honorieren diese Entwürfe weltweit. Grosses Aufsehen erregt der mit einer synthetischen Melaminschicht überzogene Tischrechner «Divisumma 18». Bellini: «Wir benötigen Objekte, die die Sinne ansprechen. Denn wir begreifen unsere Umwelt nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Händen.» Er ist Olivetti immer noch verbunden. Das von der Fachwelt hochgelobte, nur DIN A5 grosse Notebook «Ouaderno » zeigt wiederum seine Fähigkeit, mikroelektronischen Komponenten die geeignete Gestalt zu geben.
Erst nach langer Erfahrung als Industriedesigner wagt Mario Bellini den Stuhl «Cab» zu entwerfen. Er erläutert uns sein Problem: Schon vor 4000 Jahren existierte bei den Ägyptern mit dem Stuhl des Amenophis III. ein ergonomisch perfekt geformtes Möbelstück. Wie sollte dann ein der heutigen Zeit entsprechender Stuhl aussehen? Nach Mario Bellini muss er auf seine grundsätzlichen Bestandteile reduziert werden: Beine, Sitz, Lehne. Der «Cab» entspricht einem Leder-Overall, der über ein leichtes Stahlgestell gezogen und mit senkrechten Reissverschlüssen - wie Stiefel an den Beinen - befestigt wird. Dieser erfolgreiche Entwurf - eine strukturelle und organische Symbiose - avanciert bei der italienischen Mittelschicht zum Erkennungsmerkmal für Stil.
Auch der Bürostuhl «Figura», zusammen mit Dieter Thiel für Vitra entworfen, entsteht erst nach einem langen, systematischen Designprozess. Nach Mario Bellini soll er in der immer technischer wirkenden Bürowelt Wohlbehagen einziehen lassen. So erfüllt «Figura» zwar sämtliche ergonomischen Anforderungen, aber kein Kunststoffteil, keine Funktionstasten sind erkennbar. Durch sein textiles Äusseres - er ist mit farbigen, auswechselbaren Stoffenen bezogen - wirkt er betont wohnlich. Übrigens begleitet «Figura» die hohe Politik: Mit gesondert entwickelten Armlehnen befindet er sich im Plenarsaal des neugebauten Deutschen Bundestages.
Form und Funktion
Am Beispiel des «Figura» und des «Cab» entwickelt sich eine spannende Diskussion über den Zusammenhang von Form und Funktion. Das lntresse Mario Bellinis ist geweckt. Er wirkt sehr lebendig, spricht mit seinem ganzen Körper. Energisch vertritt er seine Designposition. Form und Funktion bedingen sich nur kulturell. Anhand seiner Japanerfahrungen (40 Prozent seiner Aufträge kommen aus Japan) begründet er treffend diese Position: «Ergonomisch sind Essstäbchen völlig missraten - aber bei ihrem Gebrauch verfeinert sich doch die Köstlichkeit der Speisen. Oder?»
Form und Funktion - welche Zukunft besitzen modular aufgebaute Systeme? Bellini weist auf die Produktefamilie «Eclipse» für Erco und das Schranksystem «Memo» für Vitra hin. Er betont die Wichtigkeit modularer Systeme für eine moderne, zeitgemässe Einrichtung. Sie müssen je nach Raumsituation individuell kombinierbar sein, sie müssen Erweiterungen, Umstrukturierungen erlauben.
Sein Gestaltungsvorbild für die «Eclipse» Strahler ist die technische Konzeption der Bühnenbeleuchtung. Mario Bellini hebt ganz bewusst die technologische, unverkleidete Struktur der Strahler hervor. Umfangreiches Zubehör ermöglicht den gewünschten, flexiblen Einsatz und, falls erforderlich, Modifikationen und Erweiterungen.
Auch das Schranksystem « Memo» - wieder zusammen mit Dieter Thiel für Vitra entworfen - zeigt unverkennbar die Urheberschaft Bellinis. Typisch für sein Design ist die ideale Kombination zweier Funktionen: das System «Memo» dient als Aufbewahrungsort und zugleich als architektonisches Element. Grosse Räume lassen sich durch überein andergestapelte und aneinandergereihte Elemente optisch gliedern und strukturieren. Erweiterungen sind problemlos möglich. Stoffbezogene Rückwände wirken schalldämpfend, bilden zugleich einen farbigen Kontrast zur Umgebung.
Zurück zu den Wurzeln
Anfang der achtziger Jahre - inzwischen ist Maria Bellinis Design weltweit anerkannt- wagt er sich auf 'Neuland' vor und kehrt zugleich zu seinen Wurzeln zurück: Er arbeitet als Architekt. Warum? «Weil ich etwas anderes machen und lernen wollte.» Die Architektur mit ihrer eindeutigen, !ehrbaren Sprache begeistert ihn. Und der Erfolg? Heute gilt Bellini als weltweit anerkannter Architekt. Eine vollständige Aufzählung der realisierten Projekte würde den Rahmen jeder Reportage sprengen: Wolkenkratzer in Osaka, Dienstleistungskomplex in Yokohama, Projekte im Quartier Brera, Neuprojektierungen für die Fiera di Milano und vieles mehr. Wir fragen nach seinem Vorbild in der Architektur. Antwort: Palladio. Wichtig sei ihm die stilistische Einbettung eines Projektes in die jeweils vorgegebene Umgebung. Er demonstriert diese Auffassung am Tokio Design Center. Ein aussergewöhnlich schwer zu bebauendes Areal, am Fuss eines Hügels gelegen, auf dem Baugrund ein vierstöckiges, gesichtsloses Haus. Maria Bellini wählt einen u-förmigen Grundriss, eine ruhige, klare Frontseite und öffnet das Haus, wie bei den traditionellen japanischen Stadthäusern, zu dem hinteren, Ruhe und Harmonie ausstrahlenden Teil. Hier zeigt sich die Kunst Bellinis, sich in andere kulturelle Kontexte hineindenken zu können.
Die Diskussion wird anstrengend, wir verlassen den Bereich der Architektur und wenden uns wieder dem Design zu. Existieren Grundelemente für seine Gestaltung? Maria Bellini zögert. Er betont, dass bei ihm durch strukturelle Klarheit der Grundform, durch Linienführungen und möglichst raffinierte Detaillösungen oft der skulpturelle Charakter der Designobjekte hervorgehoben wird. So zum Beispiel bei dem Tintenfüller «persona» für Lamy, bei dem Kaffee-Service «Cupola» für Rosenthal oder dem tragbaren Fernsehgerät «best 15» für Brionvega. Die Eleganz der spannungsreichen Linienführung ist bei dem Tintenfüller für Lamy perfekt umgesetzt. Ungewöhnlich auch bei «Cupola» das herumgewundene Griffband der Tasse - eine äusserst raffinierte Henkellösung. Sie lockert die strenge Geometrie der Gesamtform auf. Auch der «best 15» - er befindet sich schon in den permanenten Ausstellungen einiger Designmuseen - überzeugt als audiovisuelle Skulptur. Maria Bellini erläutert uns anhand des «best 15» nochmals folgende grundlegende Designprinzipien.
Was wird Bestand haben?
Ausgangspunkt sind für ihn die systematisch erforschten ergonomischen Erkenntnisse über den Gebrauch von Gegenständen. So ist der Tragegriff des «best» in den Gehäuseaufbau integriert. Der Transport mit nur einer Hand ist sicher und ausbalanciert. Abgerundete Gerätekufen ermöglichen ein einfaches Absetzen und verhindern ein Verkratzen empfindlicher Oberflächen. Ist das Design nur über den Gebrauch zu begreifen? Maria Bellini schüttelt den Kopf. Die Antwort ist deutlich, die Hände formen die Worte mit. Bellinis Designobjekte zeichnet über ihre Funktion als reine Gebrauchsgegenstände hinaus immer ein Extra aus. Sie verkörpern mit ihrem bildhaften Design eine eigene Poesie. Unverkennbar stehen sie deshalb in der Tradition des «bel design» Italiens. Der «quadro 28» für Brionvega bestätigt mit seiner eleganten Erscheinung diese Designauffassung.
Und unsere Streitfrage, welche Objekte im nächsten Jahrhundert noch Bestand haben werden? Maria Bellini lacht, weicht der Frage aus. Bestand haben wird die Art, an Designaufgaben heranzugehen, die grundlegende Erforschung des zu gestaltenden Objektes, die gute Kenntnisse der Technologien, der Materialien und der Verarbeitung voraussetzt. Wir haben die uns gesetzte lnterviewzeit weit überschritten, als die letzte Frage ansteht. Welche Künstler schätzt Bellini? Die Antwort kommt ohne Zögern: Francis Bacon und Giorgio de Chirico.
Auf dem Weg zum Ausgang blicken wir auf den grossen Hof des Seminars. Die ehrwürdigen Kreuzgänge strahlen Ruhe aus, Seminaristen schreiten gemächlich, in Bücher vertieft, auf und ab. Diese Ruhe wird Maria Bellini auch nicht vermissen, wenn er sein neues Studio im Navigli Viertel bezieht. Das Gebäude dort ist zweistöckig und umschliesst einen grossen Hof, in dessen Mitte ein Baum zur meditativen Versenkung einlädt.
Quelle:
Jatzke-Wigand, H.: Mario Bellini: Der Designer, Architekt und Intellektuelle. In: wohnrevue 2/94, Schlieren 1994, 50-56