Hartmut Jatzke-Wigand
 

Hartmut Jatzke-Wigand

Ettore Sottsass Jr.: "lch bin kein Designer, ich bin ein Mensch ..."


Die begehrteste deutsche Designauszeichnung - der Preis «Design-Köpfe» - ehrt das faszinierende Gesamtwerk des Industriedesigners, Architekten, Grafikers und Lyrikers Ettore Sottsass jr. Mit innovativen Konzepten schreibt er ab 1958 für Olivetti Designgeschichte. Ettore Sottsass engagiert sich in experimentellen Projekten der radikalen Architektur. Er ist Mitglied des Studio Alchimia, das durch seine Kollektion «bau-haus» (1979) weltweit berühmt wurde. Seine Arbeiten für die Gruppe Memphis (ab 1981) stellen die herkömmlichen Auffassungen der Modeme in Frage. Das in den Hamburger Deichtorhallen gezeigte künstlerische Spätwerk begeistert. Ettore Sottsass: ein universelles Genie.

 

Von Hartmut Jatzke-Wigand

Drei Stunden vor der Preisverleihung. Noch befinden sich nur wenige Personen im filigranen Kuppelsaal des Designzentrums Hannover. Hier bietet die Ausstellung «Sottsass at work» einen repräsentativen Überblick über das breite Wirkungsspektrum von Sottsass und seinem Studio Sottsass Associati. Unser Führer durch die Ausstellung: Ettore Sottsass.

 

Wir treffen uns vor der Präsentation der legendären Reiseschreibmaschine «Valentine » (Olivetti 1969). Ich bitte um ein Photo. Melancholisch schaut Sottsass auf sein Werk: das weltweit bekannteste Symbol für innovatives Olivetti-Design. Das von der Pop-Art inspirierte rote Gehäuse lässt das Beige und Perlgrau der bisher produzierten Maschinen nur noch trister erscheinen. Die Tastatur der «Valentine» ist vorgelagert, genial gestaltet Sottsass die Ausprägung der Leertaste. Ein roter, wasser- und ölresistenter Tank aus ABS dient als Behälter. Der Besitz der «Valentine» zeugt Anfang der siebziger Jahre von Arbeitsfreude, Mobilität und Jugendlichkeit. Ein typischer Sottsass-Entwurf, nur durch sein Einfühlungsvermögen ermöglicht, gekoppelt mit optimaler Kenntnis angewandter Technologien .

 

Olivetti und Sottsass - eine fast dreissigjährige Erfolgsgeschichte und zugleich ein beidseitiger Glücksfall. Ich frage nach den Anfängen. Adriano Olivetti sucht 1958 für seine neugeschaffene Elektronikabteilung einen vielseitigen Designer. Der Schriftsteller Giorgio Soavi empfiehlt den unbekannten Architekten Sottsass. Seine erste Aufgabe: die formale Gestaltung eines Grosscomputers. Sottsass:,, Ich war für ein paar Monate nicht in der Lage, das Problem zu begreifen. Erst 14 Tage vor dem Präsentationstermin fing ich an zu arbeiten." Sottsass standardisiert für den Computer «Elea 9003» die einzelnen Schrankeinheiten. Betonte Leitungskanäle dienen als ästhetisch verbindendes Element, sie ermöglichen die geforderte flexible Aufstellung. Ergonomische Gesichtspunkte bestimmen die Anordnung der Bedienungselemente. Grundlegend analysiert Sottsass die im Arbeitszusammenhang entstehenden Beziehungen zwischen Mensch und Maschine. Die Fachwelt reagiert auf den « Elea 9003» Computer zugleich überrascht und begeistert. 1959 erhält Sottsass seinen ersten «Compasso d'Oro» - die begehrteste Designauszeichnung Italiens - für diese konzeptionelle formale Lösung.

 

Der Durchbruch ist geschafft. Die Zusammenarbeit mit Olivetti wertet zugleich die Tätigkeit eines Designers auf. Er gestaltet nicht nur die Objekthülle, sondern bedenkt bei seinen Entwürfen die technische und produktive Logik mit. Haben die Olivetti-Erfahrungen Auswirkungen auf den Arbeitsprozess des Studios Sottsass Associati? Erstaunt bemerkt Sottsass: ,,Natürlich." In seinem zusammen mit Marco Zanini, Matteo Thun und Aldo Cibic gegründeten Studio arbeiten heute mehr als 30 internationale Architekten und Designer Das ganzheitliche Vorgehen des Teams beim komplexen, integrierten Entwicklungsprozess garantiert eine Schlüssigkeit des visuellen Vokabulars. Ihre Arbeitsergebnisse schliessen graphische Präsentation, komplette innenarchitektonische und architektonische Lösungen sowie vollständige Corporate ldentity-Konzepte mit ein. Nur so konnten sie den grossen Erfolg ihrer umfassenden Konzeption einer Corporate ldentity für die Modemarke ESPRIT realisieren.

 

„DESIGN IST DER VERSUCH, EINE MÖGLICHE BEZIEHUNG ZWISCHEN INDUSTRIE UND DESIGNER ZU STIFTEN ••• "

 

Die «Twergi-Kollektion» von Alessi bestätigt die kluge Firmenphilosophie des italienischen Designunternehmens und wirft zugleich ein Glanzlicht auf das Vermögen von Sottsass, sich in traditionelle Handwerkstechniken einzufühlen. Die Twergi-Objekte fertigt die Firma Piazza Battista aus Loreglio (1865 gegründet) im Strona-Tal in alter Handwerkstradition. Sottsass faszinieren die Verarbeitungsmöglichkeiten des Materials Holz mit der Drechselbank. Er gestaltet eine „ Familie von Sottsass-Objekten" (Alberto Alessi): Sie wirken unprätentiös, einfach schön. Besonders beeindruckt die hohe Pfeffermühle, eine Skulptur aus Ahornholz mit strengen, von der japanischen Ästhetik inspirierten Hell-Dunkel-Kontrasten.

 

Sottsass entwirft viele Einzelteile des «programma 5» (Alessi), vom Besteck «Nuovo Milano» (1987 bis 1991) über das Barzubehör (1979) bis hin zur ovalen Servierschale. Diese Gegenstände sind äusserst funktional, und sie repräsentieren einen hohen Gebrauchswert. Zufrieden äussert sich Sottsass über ihren Erfolg. Natürlich verschönern sie auch in Mailand die Tischkultur seines für die bürgerlich toskanische Küche bekannten Stammlokals «Torre di Pisa». Unser Gespräch bestätigt aufs Neue: Das Design von Ettore Sottsass ist nicht auf einen bestimmten Stil festzulegen, vielmehr durchdringen sich seine funktionale und künstlerisch experimentelle Designtätigkeit gegenseitig.

 

„ENTWERFEN IST DIE UNAUFHÖRLICHE SUCHE NACH EINER MÖGLICHEN METAPHER DES SEINS ••• "

 

Sottsass betrachtet gestalterische Probleme im Gesamtzusammenhang mit dem Raum, mit der Kommunikation. Er fragt nach Konzepten der Veränderung menschlichen Daseins. Woher stammen die Inspirationen für seine aufsehenerregenden Möbelkollektionen? ,, Natürlich basieren sie auf meinen substanziellen Erfahrungen mit der asiatischen Kultur, den Inspirationen der Pop-Art während meines Amerikaaufenthalts 1962." Poltronova fertigt 1966 Prototypen der Schrankserie «Superbox», heute als ein Meilenstein im Möbeldesign anerkannt. Plastiklaminate kombiniert Sottsass mit traditionellen Werkstoffen. Er entwickelt eigenständige Auffassungen über Rundungen und Materialstärken. Die frei im Raum aufstellbaren Objekte ruhen auf ausladenden Sockeln. Sottsass gestaltet seine Möbel als Architektur, sie besitzen Volumen und nicht Struktur. Und der Erfolg? Sottsass blickt wieder melancholisch. ,, Die Menschen reagierten mit erstauntem Kopfschütteln - sie waren einfach überfordert."

 

Aber beharrlich verfolgt Sottsass seine ästhetischen Grundpositionen. Abermals schockieren seine Beiträge für die Kollektion «bau-haus» (1979) und «bau-haus Side Two» (1980) . Ungewöhnlich ist die Verwendung der als billig» angesehenen Plastiklaminate (Abet Laminati). 1981 stellt er bei der Präsentation der Gruppe Memphis wiederum schockierende Möbel und Objekte vor. Die Gruppe trifft den Nerv der Zeit. Sensationell ist die Mailänder Ausstellungseröffnung. Über 2500 Besucher kommen und staunen. Die Medien berichten weltweit: Memphis und Sottsass werden als mediales Ereignis gewürdigt.

 

Der deutsche Modeschöpfer Karl Lagerferld stattet sein Appartement in Monte Carlo komplett mit Gegenständlichkeiten der Memphis-Kollektion aus. Objekte von Sottsass avancieren in den Metropolen zum Erkennungszeichen für die Avantgarde - so etwa die Leuchte «Thahiti» (Memphis 1981), die zarte Glasvase «Sirio » (Memphis 1982) oder das Bücherregal «Carlton» (ebenfa lls Memphis 1981). Plastiklaminate bewirken beim «Carlton» intensive Farbeindrücke. Sein Zeichencharakter ist archaisch. Einflüsse der Pop Kultur sind offensichtlich.

 

Im Bereich des Möbeldesigns bewegt sich Sottsass zwischen radikal entgegengesetzten Designpositionen. Objekte wie «Speakeasy» (1993) oder «La Torre di Babele» (1990) erscheinen subjektiv, poetisch, zu begreifen als Objekte der Gefühlswelt (Galerie Bischofberger, Zürich). Sottsass' Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Kulturkreisen bieten hierfür scheinbar unerschöpfliches

kreatives Potential. Dagegen überzeugt das zweckmässige, klappbare Beistelltischchen « Nano» durch klare, funktionale Ästhetik (Schopenhauer, Gruppo Fontana Arte). Die bunten, in jedes Ambiente passenden kleinen Sessel «Selim» verweisen mit ihrer skulpturalen Form auf den Architekten Sottsass. Seine indischen Reiseerfahrungen inspirierten ihn zur Konzeption des «Diwan» (Cassina, 1992). Den «Diwan-I-Khas», auf persisch «Saal für Privataudienzen», liess der indische Mogulherrscher Akbar in der geheimnisvollen Palaststadt Fatehpur-Sikri bauen. Das Sofa «Diwan» mit seinen weichen Polsterkissen ist für Sottsass ein idealer Ort des Gesprächs.

 

" ES GEHT DARUM, CHANCEN ZU ERÖFFNEN, STATT LÖSUNGEN ZU BIETEN ••• "

 

Büroeinrichtungen - ein spannendes Thema. Andrea Branzi, Michele De Lucchi und Ettore Sottsass entwarfen für die Ausstellung «Citizen-Office» Szenarien, mit denen sie die Nüchternheit und Rationalität der Bürokultur durchbrechen wollten (Vitra Design Museum 1993). Typisch für Sottsass, er kennzeichnet seine Vorschläge als Notizen, auf keinen Fall als Lösungen. Sie sollen Zweifel wecken, Anregungen geben. Und wie?

 

Schlanke, rollbare Türme ersetzen bei seinem Szenarium die üblichen Regale. Lichtdurchlässige Aufbauten garantieren an den Schreibtischen eine angenehme Arbeitsatmosphäre, sie dämpfen hartes Licht. Und wozu dienen die Taschen an den Bürostühlen? ,, Natürlich dazu, um das kabellose Telefon, Schreibmaterial und Terminkalender unterzubringen." Seine Vorschläge lassen sich mit weiteren Sottsass-Entwürfen ergänzen, zum Beispiel mit der Tapete «Arabia Felix» (Rasch 1992) oder durch die exklusiven Schreibgeräte von Omas. Ettore Sottsass als Allround-Designer.

 

"IN WIRKLICHKEIT ERLEUCHTET DAS LICHT NICHT,  ES ERZÄHLT ..."

 

Grelle Sonne scheint durch die Scheiben des Designzentrums, die ausgestellten Objekte werfen ausgeprägte Schlagschatten. Wir sprechen über Lichtwirkungen. Sottsass wirkt sehr aufgeschlossen, freundlich. Er kann zuhören. Einer umfassenden Analyse unterzieht er die Auswirkungen verschiedener Lichtarten auf emotionale Stimmungen, auf Räume. Seine Überlegungen veröffentlicht er in einem lyrischen, einfühlsamen Essay in der legendären Designzeitschrift «Terazzo». Zentral für ihn: Das Licht gibt Bedeutungen, es zeichnet Metaphern.

 

Eine Hängelampe aus dem Jahr 1958 belegt sein frühes Interesse am Lampendesign (Arredeluce). Aufsehen erregt 1983 die Tischleuchte «Pausania» aus der Collection Artemide. Diese Leuchte übt einen seltsamen ästhetischen Reiz aus. Sie wirkt durch ihr verchromtes Metall und die schwarzen, glänzenden Kunstharzteile elegant, zugleich aber irritiert ihr Formenmix. Eine energiesparende Leuchtstofflampe sorgt für reduzierten Energieverbrauch, eine Annäherung des Designs an ökologische Erfordernisse. Schon jetzt gilt die «Pausania» als Designklassiker, sie gehört zur permanenten Sammlung des Museum of Modern Art (MoMA) in New York.

 

Für die Collection Artemide gestaltet Sottsass mit der Stehleuchte «Callimaco» (1982) einen weiteren Designklassiker. Sie provoziert durch einen breiten, verchromten Griff. Der massig wirkende Fuss steht formal im Gegensatz zu dem kleinen Reflektor. Die «Callimaco» symbolisiert eine neue Designkultur, sie verändert Massstäbe und Ästhetik.

 

Möglichkeiten individueller Licht- und Raumgestaltungen verkörpert die Leuchtenlinie «Optos» (Zumtobel 1994). Optische Akzente setzen farblich und formal differenziert gestaltete Glasaccessoires. Auch die Serie «Artos» überzeugt Innenarchitekten mit ihren Variationsmöglichkeiten. Die verschiedenen Lichtköpfe lassen vielfache farbliche und gestalterische Kompositionen zu. Die Diskussion über diese Leuchten und zukünftige Entwicklungen verebbt. Die Zeit drängt. Schnell spreche ich noch die Themen Keramik und Architektur an.

 

„BETRACHTE DIE KERAMIKEN, UND ALLES WIRD SICH DORT FiNDEN WIE IN GEDICHTEN UND IN LIEDERN ••• "

 

Indien prägt und verunsichert zugleich mit seiner Formenvielfalt, mit seiner Andersartigkeit ästhetischer Realisierungen. Sottsass betont sein Interesse an der Keramik, an ihrer Verwendung in anderen Kulturen. Keramiken ermöglichen ihm, sich unmittelbar auszudrücken. Er verarbeitet 1963 in den «Keramiken der Dunkelheit» die existentiellen Erfahrungen seiner durchlittenen lebensgefährlichen Erkrankung. Sottsass arbeitet hier an einer radikalen Erneuerung der figurativen Sprache. Sein Design durchbricht die Grenzen zwischen Gebrauchsgegenstand und Kunstobjekt. Die zylindrische Form dieser dunklen Keramiken bedecken farbige, meist runde Zeichensysteme. Eindeutig ist ihr Gegensatz zur sachlich glatten Ästhetik italienischer Objekte dieser Zeit. Die Mailänder Designszene reagiert schockiert, belustigt, aber auch angeregt. 1964 ist Sottsass engültig genesen. Die erneut gewonnene Lebensfreude verkörpern eine Serie von farbigen Keramiktellern, benannt nach der indischen Gottheit Schiwa, des Gottes der Liebe. Farbgebung, Struktur und Muster der Teller kennzeichnen für Sottsass einen weiteren wichtigen Schritt zur Entwicklung einer eigenständigen Ästhetik, die später in farbenfreudigen Grosskeramiken wie «Menta» mündet (Bitossi 1985).

 

"Ich entwerfe Orte, in denen man sein kann."

 

Immer wieder sucht Sottsass Grenzüberschreitungen, neue Erfahrungen, Betätigungsfelder. Seit 1986 reizen ihn die Herausforderungen der Architektur. Zurück zu den Anfängen - zwischen 1948 und 1950 zeichnete er als junger Architekt Hunderte von Skizzen von Häusern. Ich frage nach den Grundsätzen seiner Entwurfstätigkeit. Eine klare Antwort: „Architektur dient dazu, dem Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen." Viele Bauprojekte befinden sich im fortgeschrittenen Planungsstadium, so etwa das Projekt «Twin Dome City» in Fukoaka, Japan. Seine Prinzipien und Interessen verdeutlicht exemplarisch das Casa Wolf, zusammen mit Johanna Grawunder für den amerikanischen Kunsthändler Daniel Wolf konzipiert (1985 bis 1989). Die Beziehungen zwischen Innen- und  Aussenraum bergen ständige neue Überraschungen, intensiviert durch die Materialwahl: italienischer Marmor, Glas, Fliesen, Holz. Die Farbwahl - erkennbar Sottsass. Aus der weissen Fassade «springen» augenfällig zitronengelbe Balkone. Auch die Dächer sind farblich abgesetzt. Sottsass entwirft Architektur um das Leben des Menschen herum. Daniel Wolf ist von seinem Haus begeistert.

 

ETTORE SOTTSASS - DAS MEDIENEREIGNIS

 

Zwei Stunden nach unserem Interview. Das Auditorium des Kuppelsaals ist überfüllt, Fernsehteams vermitteln Internationalität. Statt einer Laudatio sehr persönliche, intensive Statements von Freunden und Weggefährten. Micchele DeLucchi betont die Faszination, die von Sottsass auf eine Generation junger Designer ausging. Jörg Zumtobel hält ihn für einen der letzten Vertreter des Universalgelehrten mit einem weiten, in Kulturgeschichte und Anthropologie wurzelnden Denken.

 

Und der gefeierte Ettore Sottsass? Er bedankt sich kurz, bescheiden.

 

 

Quelle:
Jatzke-Wigand, H.: Ettore Sottsass jr.: "Ich bin kein Designer, ich bin ein Mensch …". In wohnrevue 7/94, Schlieren 1994, 77-84

powered by webEdition CMS