"Ich entwerfe Gebrauchsgegenstände, keine Kultobjekte ..."
Achille Castiglioni
Achille Castiglioni gilt als einer der genialsten zeitgenössischen Designer. Ihn kennzeichnet die Vielseitigkeit seiner Arbeitsbereiche, sein fortwährendes Experimentieren mit neuen Materialien, Techniken und Formen. In enger Zusammenarbeit mit seinem Bruder Pier Giacomo beeinflußt dieser Pionier italienischen Designs die internationale Formgebung. Maßstäbe setzt sein essentielles Leuchtendesign; seine Rundfunkgeräte für Brionvega befinden sich weltweit in den Designmuseen. Achille Castiglioni ist Hauptperson zahlreicher Mailänder Triennalen. Sein Ausstellungsdesign mit spektakulären Raum- und Lichtgestaltungen lockt neugierig staunende Besucher. Die wohnrevue traf sich mit Achille Castiglioni, dem Meister der Gestaltung langlebiger, funktiona ler Gebrauchsgegenstände.
Milano, Piazza Castello Nr. 23. Wir betreten das Studio Castiglioni - uns empfängt ein kreatives Chaos. Bücherregale, Prototypen, Sammlungsschränke, Modelle in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien füllen die grossbürgerliche Parterrewohnung mit ihren hohen Räumen und altem Eichenparkett. Freundlich lächelnd, in der Hand die unvermeidlich lange Zigarette, führt uns Achille Castiglioni zu seinem mit Zeichenmaterial übersäten Arbeitstisch. Unauffällig steht dort ein kleines Rundfunkgerät aus Duroplast mit abgerundeten Kanten und betont hervorgehobenem Lautsprecher. 1939 der revolutionäre Entwurf des jungen Teams Luigi Caccia Dominioni, Pier Giacomo und Achille Castiglioni. Schon dieses Gerät verweist auf die zentrale Bedeutung von Funktionalität für Castiglioni. Stolz demonstriert er die leichte Bedienbarkeit der weissen Tasten, den engen Bezug zwischen technologischem Aufbau und Gehäusegestaltung. 1944 tritt der promovierte Architekt Achille Castiglioni in das Designstudio seiner Brüder ein. Hier arbeiten besonders intensiv Achille und Pier Giacomo zusammen. Sie teilen sich Ihre internationalen Erfolge. Dieser Glücksfall intuitiven Verstehens endet 1968 durch den jähen Tod seines Bruders.
Funktionalität gekoppelt mit Verwendung neuartiger Materialien - anhand dieser Leitlinien durchdringen die Brüder Castiglioni als wichtiges Industrieprodukt die Funktion eines Staubsaugers. Radikal neu ist ihr 1956 produziertes Arbeitsergebnis: der knallrote Staubsauger «Spalter » mit glattem, glänzendem, formschönem Kunststoffgehäuse. Und wozu dienen die breiten Lederriemen? Castiglioni lächelt: ,,Zum Tragen auf dem Rücken, er vereinfacht so die Reinigung von Treppenstufen ". Dieses Objekt begeistert heute die Industriedesignsammler. Es befindet sich u. a. in der ständigen Ausstellung des Museums of Modern Art, New York.
Für das designbewusste Unternehmen Brionvega entwerfen die Brüder Castiglioni den Stereo Rundfunkempfänger «rr 126 fo/st». Ein selbsttragendes mobiles Gerät mit ausgezeichneten stereophonischen Eigenschaften. Zugleich ein Markterfolg, ein Statussymbol gehobener Einkommensgruppen in den italienischen Metropolen. Wir fragen nach weiteren Entwürfen für Brionvega. Agil steht Castiglioni auf. Er sucht nach Photographien, nach Zeichnungen, um Konstruktionsmerkmale eines Drahtrundfunkempfängers zu erklären. Dieses 1967 in verschiedenen Farben produzierte Gerät unterstreicht den Ruf der Designmarke Brionvega. Es belegt zugleich Castiglionis Meisterschaft bei der Gestaltung von Plastikteilen für die Serienproduktion.
Ausstellungsgestaltungen als Experimentierfeld
Unser Thema bereitet Castiglioni Vergnügen. Äusserst präsent, mit weiten, untermalenden Gesten erläutert er seine Positionen. Ausstellungsgestaltungen ermöglichen zu experimentieren, zu erkennen, wie das Publikum auf den gestalteten Raum, die Farben und Lichtwirkungen reagiert. Castiglioni feiert Erfolge. Er fasziniert das Publikum, aber auch die professionellen Besucher mit seinen Installationen und Ausstellungen. Enthusiastische Reaktionen rufen auf der Mailänder Messe 1964 in der Halle von Montecatini leuchtende Schirme hervor, auf denen Castiglioni grosse, farbige Begriffe projiziert. Oder 1967 der unendlich erscheinende Raum eines schwarzen Himmels in der Ausstellungshalle der RAi, durchquert von einem geheimnisvoll leuchtendem Abakus.
Bis zum heutigen Zeitpunkt ungewöhnlich wirkt das Ambiente eines Wohnraumes in der Villa Olmo, 1957 für die Ausstellung Colori e forme nella Casa d'Oggi installiert. Ihre Einrichtung entspricht mit dem Durcheinander verschiedenster Gegenstände - unter anderen einer Schultafel, einem hängenden Bücherregal, einem Wasseranschluss zum Blumengiessen - nicht der Gleichförmigkeit eines Stils. Aber sie beeindruckt durch die spezifische Qualität jedes einzelnen Objektes. Castiglionis Ziel: persönliche Vorlieben und Gewohnheiten, nicht von aussen gesetzte Massstäbe, sollten die Wahl der Einrichtung bestimmen. Castiglioni regt zum ungewöhnlichen Wohnverhalten an. Bei zwei Objekten - dem Hocker «Mezzadro» und dem Sitz «Sella» - reagiert das Publikum mit Erstaunen, Kopfschütteln, Lachen. Ein roter Traktorsitz im Wohnbereich als Hocker, das erschien absolut unverständlich.
Readymades in der Inneneinrichtung
Die Gestaltung des «Mezzadro» verweist auf Castiglionis Ironie gegenüber allgemein geltenden Überzeugungen. Der «Mezzadro» ist ein Readymade. Bei diesem Design verwendet Castiglioni Fertigteile, die in der Industrie als arme Baustoffe gelten. Ein Gegenstand, hier der Traktorsitz, wird zu einem im Wohnbereich zu benutzendem Hocker. Die den Sitz stützende Feder ist umgekehrt montiert. Sie verleiht dem Sitz Federkraft, sie muss nicht mehr wie beim Traktor die vom unebenen Boden verursachten Stösse auffangen. Dieser Entwurf entsprach erst dem durch die Studentenrevolten bedingten verändertem Zeitgeschmack Ende der 60er Jahre. 1971 produziert Zanotta den «Mezzadro» in Serie.
Weltweit von den Designmuseen ausgestellt, eine Art Manifest des Readymades, verkörpert die Stehleuchte «Toio» Ein Autoscheinwerfer, ein dünner sechskantiger Metallstab als Leuchtenträger, Angelrutenringe, eine rechtwinklige, als Griff dienende Metallstruktur mit Transformator auf dem Sockel - aus diesen zusammengesuchten Teilen konstruiert Castiglioni 1962 diese aussergewöhnliche Stehleuchte. Bei ihrer Konstruktion verwertet er Erfahrungen mit der 1956 produzierten Stehleuchte «Luminator ». Industrievorgaben, wie der Durchmesser der genormten Glühlampenfassung, bestimmen bei ihr die Bemessung des Lampenrohrs. Castiglioni führte mit dieser Leuchte das bisher nur in den Photostudios von der Decke zurückgeworfene indirekte Licht in die Wohnraumbeleuchtung ein.
Die Leidenschaft: Lichtgestaltung und Leuchten
Schon auf der IX. Triennale 1951 verantworten die Brüder Castiglioni den Ausstellungsbereich Beleuchtung. Ihre in der Aufbruchsphase des italienischen Designs gestaltete Tischleuchte «Tubino » strahlt bis heute Originalität, Materialgerechtigkeit und erfrischende Modernität aus. Das Arbeiten mit Licht, die Gestaltung von Leuchten, entsprechen Castiglionis Hang zum Experiment. Unvoreingenommen, intuitiv tastet er sich an Lösungsmöglichkeiten heran. Für ihn sollten Leuchten vorrangig durch Lichteffekte, nicht durch ihre Gestaltung, eine dekorative Funktion erfüllen. Diesen zentralen Designgesichtspunkt bringt Castiglioni 1962 in das Unternehmen Flos ein. Deren Lichtobjekte dokumentieren sein kontinuierliches Bestreben , innovative Wege des Leuchtendesigns zu beschreiten. Erstaunlich, wie kreativ Castiglioni unterschiedlich typologische Lösungen findet. Die Bandbreite seines Schaffens reicht von Readymade «Toio» über die einfache Tischleuchte «lpotenusa», der reduzierten «Parentesi» bis zu Skulpturen wie die «Gibigiana » oder die in ihrer Form architektonisch wirkende «Taccia».
«Frisbi» vereint als Hängeleuchte zwei unterschiedliche Lichtfunktionen: gebündeltes Licht zur Ausleuchtung einer Tischfläche gekoppelt mit diffusem Licht zur Zimmerbeleuchtung . Eine Innovation 1968, weil bei herkömmlichen Deckenleuchten oberhalb des Schirmes immer ein Schatten fällt. Zahlreiche Experimente dienen bei der «Frisbi» der Ermittlung geeigneter Grössenverhältnisse zwischen Lichtquelle, Reflexionskuppel und der wie ein UFO schwebenden Acrylscheibe. Auch die Leuchte «Arco» gestattet die blendfreie, von oben fallende Ausleuchtung einer Tischfläche. Ihr Leuchtkörper hängt im Gegensatz zur «Frisbi» nicht an einer sichtbar von der Decke führenden Leitung, sondern an einem grossen, raumteilenden Bogen aus Profilstahl. Er gründet als Gegengewicht auf einem 50 Kilogramm schweren Marmorständer. Ein rundes Loch im oberen Sockelbereich erleichtert den Transport der Leuchte.
Als letztes aussergewöhnliches Lichtobjekt sei die «Brera» - ein Favorit Castiglionis - vorgestellt. Bei der «Brera» unterbricht nur der Zugriff zur Lampenfassung das Oval der eiförmigen Gestalt. Angenehm für das Auge dämpft die · matte, ovale Form die Lichtquelle . Woher stammt die Bezeichnung «Brera»? ,,In der Pinakothek Brera hängt Piero della Francescas Meisterwerk La Pala dei Montefeltri. Über der Madonna hängt an einer Perlenschnur ein Ei, meine Inspiration für die «Brera »".
Gutes Design gab es schon immer. ..
Achille Castiglioni führt uns zu seiner Schatzkiste. Sammlerschränke, überquellend mit gut gestalteten kleinen Alltagsobjekten: Ergebnis fünfzigjähriger Sammeltätigkeit. Für Castiglioni eine Quelle der Inspiration. Denn gutes Design gab es schon immer. Eingehendes Analysieren von Gebrauchsgegenständen ergibt die Ideen für ihre Erneuerung. Castiglioni greift in den Schrank, er demonstriert sein Lieblingsobjekt. Aus einer Dose zieht er den Abschnitt eines 36 mm Films. Der intelligent geschnittene Filmteil bleibt auseinandergerollt, durch seine Elastizität bedingt, am Gesicht haften. Wir erblicken die formal minimierte Sonnenbrille. Castiglioni setzt sie auf, strahlt uns begeistert an. Kein Wunder, diese Begeisterung, diese beinahe kindliche Freude schätzen die Studenten des Polytechnischen Instituts bei ihrem Hochschullehrer Castiglioni. Seine zentralen Unterrichtsthemen: Erscheinungsformen der Objekte, ihre Bedeutung im sozialen Umfeld. Sein Credo: Studenten sollen mit wachen Augen durch die Welt gehen, sie müssen das Sehen lernen ...
Die Ästhetik des Einfachen
Castiglioni versucht bei vielen Designobjekten, überflüssige Bauelemente auszuschalten. Nur Meidas Wesentliche hat Bestand . So prägt eine ästhetisch überzeugende Einfachheit den Beistelltisch «Servomuto» (Zanotta), die Bank «Fix», den Schreibtisch «Scrittarello» für e DePadova oder die von Alessi 1996 produzierten Gebrauchsgegenstände «Ondula» und «Sleek». Das Besteck «Dry» konzipiert er ebenfalls streng nach ergonomisch und gebrauchstechnisch bedingten Designgesichtspunkten. «Dry» ist ein perfektes Besteck ohne jegliche Dekorationen. Honoriert mit dem Compasso d'Oro, der weltweit anerkanntesten Designauszeichnung. Einen Gegenstand zu entwerfen, heisst kreative Ideen entwickeln, das Gebrauchsverhalten der Menschen beobachten. Der Ölbehälter «Rossi » von Alessi überragt den Essigbehälter «Arcandi ». Der Grund leuchtet ein: Bei der Salatzubereitung verwenden wir mehr Öl als Essig. Für das leidige Problem nie zu wissen, wohin die Behälterstöpsel zu legen sind, findet Castiglioni die für ihn typische , überraschende Lösung . Zwei kleine Gewichte begrenzen die Stöpsel. Sie garantieren das automatische Öffnen beim Giessen und Schliessen beim Zurückstellen.
Castiglioni weist immer wieder auf die Geschichtlichkeit des Designs, die Bezüge einzelner Entwürfe auf schon existierende Objekte hin. Den Klapptisch «Cumano» gestaltet er nach dem Vorbild eines französischen Bistrotisches. Sämtliche Tischdetails sind in ihren Ausmassen harmonisch aufeinander bezogen. Die runde Öffnung an der Tischfläche assoziiert Gedanken des Zusammenklappens und des Aufhängens. Es bereitet Freude, diesen Tisch zu handhaben, ihn aufgehängt als flache Skulptur an der Wand zu sehen . Ein Lob, das Castiglioni befriedigt zur Kenntnis nimmt.
Die uns gesetzte lnterviewzeit ist weit überschritten. Das Gespräch wird mühsam. Auf Castiglionis weiteres Arbeitsfeld Architektur kommen wir nicht mehr zu sprechen. Eine letzte Frage. Welche Projekte plant Castiglioni für die Zukunft? Kurzes Schweigen, dann die Antwort. ,,Ich wünsche mir, bis in das nächste Jahrtausend hinein arbeiten zu können ."
Quelle:
Jatzke-Wigand, H.: Achille Castiglioni: "Ich entwerfe Gebrauchsgegenstände, keine Kultobjekte …". In: wohnrevue1/97. Schlieren 1997, 60-66