Hartmut Jatzke-Wigand
 
Artur Braun: Wie das Braun-Design entstand

Artur Braun

Wie das Braun-Design entstand


Die Anfänge des Braun-Designs reichen weit zurück in die frühen fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in eine Zeit, in der von Design noch nicht die Rede war. Es ging damals nur um die Konkurrenzfähigkeit unseres Unternehmens, als wir 1952 anfingen alte Gewohnheiten in Frage zu stellen und nach etwas Neuem zu suchen, von dem wir anfangs nicht einmal wussten, was es sein könnte. Es war kein spontaner Einfall, sondern ein langwieriger, zäher Entwicklungsprozess. Ein gewagter Prozess mit Rückschlägen und Zufällen, in dessen Verlauf sich unser Unternehmen so nachhaltig veränderte, dass eine neue, eigenständige Formensprache entstehen konnte.

 

Leider hat sich im Laufe der Zeit der Blick sehr einseitig auf das äußere Design der Produkte und einzelne Gestalter verengt, während Menschen, Entwicklungsprozesse und Rahmenbedingungen jeglicher Art, die das typische Braun-Design überhaupt erst ermöglichten, kaum noch erwähnt werden und deshalb fast vergessen sind.

 

Ohne Zweifel war es mein älterer Bruder Erwin, der die Neuorientierung einleitete und über viele Jahre beharrlich vorantrieb (Abb. 1).

 

Er hatte die entscheidenden Ideen, er gab die Anstöße. An seiner Seite Dr. Fritz Eichler, der "Geburtshelfer", der Erwins Ideen reflektierte und fassbar machte (Abb. 2). Vieles wäre nur Idee geblieben, wenn Fritz es nicht formuliert und jedem Beteiligten nahe gebracht hätte. Es war das Zusammenwirken zweier vollkommen unterschiedlicher Menschen, die sich aber in idealer Weise ergänzten. Hier der Stressige, der ungeduldig und unzufrieden vorwärts strebende junge Unternehmer und dort der ausgeglichene, humorvolle, in sich ruhende, zehn Jahre ältere Freund, der aus der Welt der Kunst und des Theaters eine ganz andere Sichtweise in unser Unternehmen einbrachte (Abb. 3).

 

Am 14. Juni 1976 schrieb Fritz dazu an Erwin:

 

"Lieber Erwin. Du kommst um den "schwarzen Peter" nicht herum, denn es warst schließlich Du, der zusammen mit Artur vom Schicksal ins Wasser geworfen wurde und von einem Tag auf den anderen die Verantwortung für ein Unternehmen übernehmen musste, und der nun nach einem Weg suchte, es nicht nur ökonomisch richtig zu machen, sondern es auf eine ehrlichere, vernünftigere und menschlichere Art zu tun.

 

Dazu brauchtest Du Hilfe. Hilfe von außen, denn die meisten im Hause konnten Dich nicht einmal richtig verstehen. Du suchtest Menschen und Gesprächspartner, die Dir helfen konnten, das, was Dir zwangsläufig noch mehr oder weniger vage vorschwebte, zu realisieren.

 

Du kamst auf die etwas absurde Idee, Dir einen gewissen Fritz Eichler (der aus einer ganz anderen Welt kam) 'einzufangen'." 2)

 

Erwin hatte Fritz 1939 beim Militär in Weimar kennen gelernt. Fritz hatte Bücher über moderne Kunst im Gepäck, die damals als "entartet" galt. Er war zehn Jahre älter, hatte Kunstgeschichte studiert und seine Doktorarbeit über Handpuppen und Marionettenspiel geschrieben. Er diskutierte mit Erwin übermoderne Kunst und besonders über das Bauhaus, das in Weimar seine Heimstatt hatte, und so waren sie Freunde geworden (Abb. 4). 1954 überredete ihn Erwin schließlich zu uns zu kommen. Ein Kunsthistoriker und Theaterregisseur in einem mittelständischen Familienbetrieb der Elektroindustrie! Da traf Kultur auf Fabrik. Zum Glück hatte Erwin den Mut und die Phantasie sich so etwas vorzustellen.

 

Max Braun, unser Vater, war am 6. November 1951 im Alter von 61 Jahren völlig unerwartet verstorben (Abb. 5). Sein viel zu früher Tod stellte Erwin und mich abrupt vor die Aufgabe, sein Unternehmen mit damals über 800 Mitarbeitern weiter zu führen, obwohl wir dafür eigentlich noch zu jung und unerfahren waren (Abb. 6).

 

Vater war Firmengründer, Erfinder und brillanter Techniker in einer Person. Die Lücke, die er als Chef der gesamten Technik hinterließ, war riesengroß und ich, mit damals 26 Jahren, war hart gefordert sie zu füllen. Zeit für Visionen blieb mir da wenig. Während der kaufmännische Bereich unter Wilhelm Wiegand wie gewohnt weiterlief, hatte Erwin mehr Freiheit, sich ausgiebig mit Fragen unserer Unternehmenspolitik zu befassen.

 

Vater fehlte uns sehr, sein Rat und seine Erfahrung – aber wir sahen auch die Chance, die sich uns bot. Es war die Möglichkeit, neue Wege zu suchen und eigene Ideen zu verwirklichen. Eine Chance, wie man sie in unserem Alter nur selten findet. Das Unternehmen hatte unter Vaters Führung die schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahre und die Währungsreform überstanden, es war solide gewachsen und nicht verschuldet. Viele Mitarbeiter waren deutlich älter und erfahrener als wir, aber sie hatten Verständnis für uns, wir konnten uns auf sie verlassen.

 

Neue Wege, die wir im härter werdenden Konkurrenzkampf dringend brauchten wollten erst einmal gefunden werden. So begann für Erwin eine Zeit der ständigen Suche nachneuen Möglichkeiten, nach jungen, kreativen Menschen, die zu uns passten, nach Hilfe und Anregungen von außerhalb. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass der verheerende zweite Weltkrieg erst seit einigen Jahren vorbei war und dass vieles noch im Argen lag (Abb. 7). Aber vielleicht war es gerade diese Zeit des allgemeinen Aufbruchs, die etwas Neues ermöglichte und die Menschen enger verband.

 

Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre gab es nur wenig Werbung. Die knappen Güter verkauften sich von selbst. Dann kam die wirtschaftliche Erholung und mit wachsendem Konkurrenzdruck der Zwang zu werben. Ernsthafte Werbung muss aber darüber informieren, wie ein Unternehmen denkt, was es hervorbringt und was es grundsätzlich zu sagen hat. Hier setzte Erwin mit seinen Überlegungen an, und es gab viel zu verändern. Vom Aushang am "schwarzen Brett" bis zum letzten Prospekt war bei Braun alles langweilig und hausbacken – Werbung und Grafikgestaltung wurden nur nebenbei betrieben (Abb. 8).

 

Schon im November 1951 ließ Erwin eine Zeitschrift für die Mitarbeiter drucken. Der Betriebsspiegel erschien dann zweimonatlich und wurde zur Chronik dieser Zeit. Das Firmenzeichen auf der Titelseite besitzt bis zum Januar 1953 noch seine alte Form, und die gesamte Gestaltung des Betriebsspiegels wirkt mit verschiedenen Schrifttypen und uneinheitlichem Layout noch sehr beliebig. Im Mai 1953 erscheint dann das neue Firmenzeichen auf der Titelseite. Wolfgang Schmittel, von Erwin als Mitarbeiter gewonnen, hatte das noch von Will Münch stammende Braun mit dem hochgezogenen A überarbeitet und seine endgültige Form festgelegt (Abb. 9). Das war ein erster Schritt in Richtung bewusster Gestaltungsarbeit.

 

Im Dezember 1953 erschien im Magazin "Der Spiegel" ein Artikel über Raimond Loewy und seinen Bestseller "Hässlichkeit verkauft sich schlecht" (Abb. 10). Erwin verteilte einige Exemplare im Betrieb und wir diskutierten ausgiebig über Loewys Herangehensweise, allerdings ohne konkrete Schlüsse für die Gestaltung unseres umfangreichen Produktionsprogramms von Elektrorasierern, Küchenmaschinen sowie Radio-, Phono- und Elektronenblitzgeräten zu ziehen.

 

Unser ehemaliger Kunsterzieher Emil Betzler, den Erwin auf der Suche nach neuartigen Radiogehäusen ansprach, empfahl ihm einen Vortrag von Wilhelm Wagenfeld, der am 18. September 1954 in Darmstadt stattfand (Abb. 11). Wilhelm Wagenfeld sprach vor Kunsterziehern über den geistigen und praktischen Nutzen von Industrieerzeugnissen. Er betonte die Wichtigkeit einer sorgfältigen und qualitätsbewussten Gestaltung, deren gesellschaftlichen Wert und die daraus resultierende Verantwortung der Hersteller. Erwin war von Wagenfelds Referat so beeindruckt, dass er diesen hervorragenden Gestalter und ehemaligen Bauhäusler bald darauf ansprach, uns bei der Gestaltung unseres Geräteprogramms zu helfen. 3)

 

Im Rahmen unserer Zusammenarbeit war ich oft bei Wilhelm Wagenfeld in Stuttgart und fühlte mich in seiner Werkstatt bald heimisch (Abb.12). Während wir an der Radio-Phono- Kombination 'combi' und dem Plattenspieler 'PC 3' arbeiteten, sprach dieser wunderbare Mann über gute Waren und gute Formen und viele Dinge aus seiner mir damals noch wenig vertrauten Welt der Formgebung (Abb. 13 und 14). Wilhelm Wagenfeld entwarf in dieser Zeit Leuchten, Porzellangeschirr und Tafelbesteck (Abb. 15). Er modellierte mit den Händen, und so entstanden herrliche Formen. Seine ihm eigene, mehr künstlerische, Formensprache und unsere technischen Erfordernisse fanden leider keine dauerhafte Verbindung. Die von den Produkten ausgehenden Aufgabenstellungen waren zu verschieden. Und doch war die Freundschaft zu Wilhelm Wagenfeld für uns von unschätzbarem Wert. Er gab uns moralische Orientierung für unsere Arbeit und blieb uns lebenslang verbunden.

 

Ich kann mich kaum noch erinnern, wie Dr. Fritz Eichler im September 1954 zu uns kam. Es muss kein großartiger Auftritt gewesen sein – der hätte auch nicht zu ihm gepasst. Zunächst sollte er sich um Werbefilme kümmern, doch schon bald wurde er unser Partner und Mentor, voller Anregungen, humorvoll, unvoreingenommen und immer bereit zum Ausgleich. Er wird sich oft darüber gewundert haben, wie es in der Industrie zugeht, aber es war für ihn sicher interessant, ein Unternehmen aus einem vollkommen anderen Blickwinkel zu erleben.

 

Erwin hatte ständig neue Ideen, auch solche, die sich kaum realisieren ließen, und wenn es dann Probleme gab, kam Fritz ganz unaufgeregt zu Hilfe. Er war der ideale Gesprächspartner, ließ Erwins Ideen Gestalt annehmen, formulierte sie und machte sie fassbar. Zahllose Stunden und Tage saßen die beiden zusammen, machten Spaziergänge im Vordertaunus und diskutierten ausgiebig bei jeder passenden und manchmal auch unpassenden Gelegenheit (Abb. 16). Erwin und Fritz sprachen über Unternehmenskonzepte und versuchten, für unser heterogenes Produktprogramm eine einheitliche, zukunftsweisende Aussage zu finden. "Für modernen Lebensstil" war schließlich das Motto, das alles verbinden sollte (Abb. 17 und 18). Am meisten störten in unserem Programm die Rundfunkund Fernsehgeräte mit ihren überdekorierten polierten Holzgehäusen. Sie bereiteten uns wenig Freude, ihr Verkauf war saisonabhängig und litt unter ständig wiederkehrenden Absatzkrisen. Gewinn brachten sie auch nicht.

 

Parallel zu meinen Arbeiten mit Wilhelm Wagenfeld entwickelte ich mit Fritz 1954 ein Kleinradio, den späteren 'SK 1' und 'SK 2' (Abb. 19 und 20). Wir gaben ihm eine streng sachliche Form mit ausgewogenen Proportionen und funktionalen Bedienungselementen auf einer Lochblechfront. Sein Pressstoffgehäuse wurde mit frischen, modernen Farben, die Fritz aussuchte, lackiert. Es unterschied sich deutlich von der Wagenfeld'schen Radio- Phono-Kombination 'combi' und wurde vor ihr produziert, so dass Seriengeräte des 'SK 1' und 'SK 2' schon auf der Deutschen Rundfunk-, Fernseh- und Phonoausstellung im Herbst 1955 in Düsseldorf und 1956 in Stuttgart zu sehen waren (Abb. 24 bis 30). Rückblickend betrachtet war es das erste Rundfunkgerät im Braun-Design, lange bevor bei Braun von Design gesprochen wurde.

 

Im Herbst 1954 besuchte uns zum ersten Mal Hans Gugelot in Frankfurt. Erich Untiedt, der Geschäftsführer unseres Holzgehäuselieferanten Thun in Jettingen, hatte Erwin geraten, sich wegen der Gestaltung moderner Radiogehäuse an die Hochschule für Gestaltung in Ulm zu wenden (Abb. 21 und 22). 4) 5) Dort arbeitete Hans Gugelot als Dozent (Abb. 23).

 

Erwin hatte der Hochschule den Auftrag erteilt, ein modernes Holzgehäuse zu entwerfen. Wenig später stellte uns Hans Gugelot dieses Holzgehäuse im Werk Rüsselsheimer Straße in Frankfurt vor. Über diese Vorstellung schrieb Fritz später:

 

"Lieber Gütsch,

ich erinnere mich an unsere erste Begegnung in Frankfurt. Du brachtest – geheimnisvoll verpackt – das erste Modell für ein zukünftiges Radiogerät mit. Es war ein spannungsvoller feierlicher Moment – eine Art Denkmalenthüllung: Da stand das Ding – eine viereckige Holzkiste – auf der Vorderseite eine schwarze Kreisfläche und ein Rechteck – das war alles. Und da standen wir – fünf Herren von der Industrie – und starrten das Ding an: In sportlicher Lederjacke, einen dicken wollenen Schal um den Hals (obwohl es im Zimmer sehr warm war) schautest Du deinerseits skeptisch – fast ein wenig arrogant wirkend – diese fünf Herren an.

 

Ein Engel ging durchs Zimmer – Du hieltest ihn sicher für einen maskierten Teufel, der das Wunderding aus Ulm gleich mit einem Knall in die Luft sprengen würde. Aber es blieb still – es scheint wirklich ein Engel gewesen zu sein – der Engel, der uns zusammenbrachte. Später hast Du mir gestanden, dass Du diese Vorführung als eine Art Test in Szene gesetzt hast. Du wolltest uns provozieren – Du wolltest wissen, ob wir zu der Sorte von Industriellen gehörten, die es auch einmal mit der sogenannten Moderne versuchen wollten. Als Du merktest, dass es uns ernst war, ja, dass wir sogar bereit waren, diesen aus einer Matrix entsprungenen Rohentwurf eines Radiogerätes zur Realität werden zu lassen – da wurden aus den fünf Herren der Industrie für Dich Menschen. Du legtest mit dem dickwollenen Schal die Skepsis ab und wurdest zum Mitverschwörer." 6)

 

Wenn es je eine Geburtsstunde des Braun- Designs gegeben hat, dann wären es nur diese Augenblicke in der Rüsselsheimer Straße gewesen. Die daraufhin folgende, für uns alle so aufregende Zeit beschreibt Fritz in der Fortsetzung seines Briefs an Hans Gugelot:

 

"Es begann eine verrückte Zeit. Für Dich und für uns. Du sprangst genauso wie wir mitten in die Realität – obwohl es Deiner Arbeitsweise widersprach. Es war keine leichte Aufgabenstellung für Dich – es war überhaupt keine Aufgabenstellung – es war eine Aufgabenvergewaltigung. Du konntest nicht vom Nullpunkt ausgehend etwas Neues entwickeln; sondern Du warst gezwungen, etwas zu tun, was Du im Grunde ablehntest: eine Form um eine vorhandene Technik machen. Du musstest mit Technikern zusammenarbeiten, die Dich kaum verstanden – ja die sogar annahmen, Du wärst neben mir der sicherste Garant dafür, die Existenz der Firma und damit ihre eigene zu zerstören.

 

Dahinter stand der Druck der Zeit. In einem dreiviertel Jahr sollte das gesamte Radio- Phono-Fernseh-Programm auf der Funkausstellung in Düsseldorf sein neues Gesicht zeigen. Wir fuhren zweigleisig – Du in Ulm wir in Frankfurt. Eines Tages stand die Radio- Phono-Kombination 'PK-G' – »der lange Heinrich« – da. Kurz darauf ein neuer Tischsuper in 2 Variationen – ein Plattenspieler und ein Fernsehgerät. Bei diesen Geräten war es Dir gelungen, gewissermaßen von einem falschen Ausgangspunkt her, Geräte zu entwickeln, die in Maß und Form aufeinander abgestimmt waren, die sich auf- oder nebeneinander anordnen ließen; es waren die ersten kombinierbaren Geräte, die es auf dem Markt gab – es waren echte Gugelots. Die unseren nahmen sich daneben treuherzig, anständig und bieder aus." (Abb. 31 bis 35) 7)

 

"Dazu kam Otl Aicher. Es war klar, dass diese Geräte in dem Riesenpotpourri von spekulativer Verlogenheit einen Raum und Rahmen brauchten, in dem sie atmen und wirken konnten. Otl Aicher entwickelte aus dem gleichen Geist ein völlig neues Ausstellungssystem (ein System, das auch heute noch das Bild sehr vieler Messestände bestimmt). Und schuf all die kommunikativen Mittel, die dazugehörten. So wurde es eine Sache aus einem Guss, die sich da 1955 in Düsseldorf präsentierte. Die Wirkung ist bekannt. Sie war sensationell." 8)

 

"Ich erinnere mich an eine Diskussion über die Erfolgs- und Zukunftschancen dieser Geräte. Die Männer mit den großen Erfahrungen konnten sich nicht vorstellen, dass Deine provozierend wirkenden Schöpfungen ein Alter erreichen würden, für das es sich gelohnt hat, überhaupt auf die Welt zu kommen. Die mehr konventionellen Formen, die so etwas wie einen »gediegenen Kompromiss « darstellten, schienen Erfolg versprechender. Ich war anderer Ansicht (und sogar bereit zu wetten). Ich behielt – Gott sei dank – recht. Die konventionellen Geräte verschwanden nach 2-3 Jahren vom Markt – die Deinigen gewannen mit den Jahren an Wert – sie zeichneten sich durch eine für Radiogeräte erstaunliche Langlebigkeit aus. Das war erfreulich – aber mit Einschränkung. Denn so wie Du damals gezwungen warst, äußere Form um vorhandene innere Technik zu machen, so waren wir jetzt gezwungen, neue Technik in vorhandene Form zu bauen – ein Teufelskreis. Es gibt keinen besseren Beweis für den Standpunkt, den Du von Anfang an vertreten hast – Technik und Form müssen sich von der Aufgabenstellung her organisch miteinander entwickeln – das Äußere ist Endprodukt.

 

Der Erfolg, den Deine und unsere Bemühungen hatten, ist bekannt. Er hat Dir ebenso wie uns einen großen Auftrieb gegeben.

 

Aus der Zusammenarbeit wurde Freundschaft – eine Freundschaft, wie es manchen schien, von Verrückten. Vielleicht waren wir es auch. Sicher nicht im üblichen – sondern mehr im wörtlichen Sinn: Verrückte; ein Stückchen abgerückt vom Verhaftetsein im »Üblichen« – das kleine Stückchen, das notwendig ist, um die Dinge aus der Distanz zu sehen – das kleine Stückchen, das es ermöglicht, auch bei scheinbar selbstverständlichen Dingen »warum« zu fragen. Und in der Fragestellung »warum« warst Du ein Meister.

 

Ich habe viel von Dir gelernt. Als ich Dich kennen lernte, glaubte ich, einiges zu wissen, dann merkte ich, wie bruchstückhaft und zusammenhanglos mein Wissen war. Du warst ein großzügiger und geduldiger Lehrer, und Du ließest es einen nicht merken, dass Du der Gebende warst.

 

Ich erinnere mich an die Geburt des 'SK 4', an das Gerät, das vielleicht am meisten zum Begriff für das Braun-Design wurde. Es war eine schwierige Geburt. Rams und ich hatten uns verrannt. Die obere Anordnung von Plattenspieler und Bedienungselementen war klar. Sie hatte bereits das Gesicht, das sie auch heute noch hat. Aber mit dem entscheidendenTeil – der Gehäusekonstruktion– wurden wir nicht fertig. Wir bastelten an einem Holzgehäuse in diversen Variationen herum. Wir kamen einfach nicht weiter. Ich reiste zu Dir nach Ulm. Du machtest Dein melancholisch nachdenkliches Gesicht und versprachst, Dir die Sache zu überlegen. Schon nach ein paar Tagen kamst Du mit einem fertigen Modell an: ein weißes u-förmig gebogenes Blechgehäuse zwischen 2 Holzwangen gespannt – eine so selbstverständlich einfache Lösung, dass man neidisch werden konnte. Keiner hatte es bisher gewagt, ein Radiogehäuse aus Blech zu machen. Die Techniker stöhnten, aber sie sahen die Notwendigkeit ein. Später kam der Plexiglasdeckel dazu. Schneewittchen war geboren.

 

All die Geräte, die Du für uns gemacht hast, waren ein entscheidender realer Ausgangspunkt für unsere Entwicklung – für all das, was unter dem etwas fragwürdigen Begriff »Braunstil« Erfolg und Anerkennung fand.

 

Aber ich meine fast, ebenso entscheidend, wie die vielen Anregungen waren, die wir von Dir – und von Otl Aicher – verhielten, waren Deine Kritik und die Arbeitsmethoden, die Du uns lehrtest – sie bilden gleichsam den basso continuo für unsere bisherige und zukünftige Arbeit.

 

Die Frage »was sagt Gütsch dazu« war für mich immer ein entscheidender Maßstab – sie wird es bleiben.

 

Für all das Dank. Dank von allen heutigen und von allen zukünftigen »Braun«-Leuten. Und ganz besonderen Dank für die Freundschaft, die Du uns geschenkt hast. Wenn Du jemanden mochtest, dann drücktest Du es auf Deine Art aus. Du stelltest fest, er sei ein Schatz. Erwin Braun, mit dem Du besonders freundschaftlich verbunden warst, war ein Schatz, Artur Braun war ein Schatz und manchmal sogar ich." (Abb. 36 und 37) 9)

 

Die Zusammenarbeit mit Ulm brachte uns den entscheidenden Durchbruch. Hans Gugelot und Otl Aicher gaben unserer Gestaltungsarbeit ein ganz neues Konzept, das den Charakter und das Gesicht unseres Unternehmens grundlegend veränderte (Abb. 38). Besonders Otl Aicher, der oft im Hintergrund blieb, besaß die Fähigkeit, dasThema auf den Punkt zu bringen (Abb. 39). 10)

 

Zusammen mit Hans Gugelot machte er deutlich, dass unsere technischen Produkte eine rationale Gestaltung brauchen. Eine Gestaltung, die aus dem Zweck und der Konstruktion des jeweiligen Gerätes entsteht. Diese Forderung steht bewusst im Gegensatz zu modischen, oft kurzlebigen Erzeugnissen mit einem emotionalen, dekorativ-künstlerischen Design. So gaben Otl Aicher und Hans Gugelot unserer Designarbeit eine klare Grundlage.

 

Dass Hans Gugelot und Otl Aicher keine weltfremden Theoretiker waren, sondern wie praxisnahe Konstrukteure dachten, kam mir sehr entgegen. Wir sprachen die gleiche Sprache und verstanden uns ohne viele Erklärungen. Ihre Vorstellungen von geordneten, klaren Formen waren unseren Konstrukteuren eine hoch willkommene Hilfe beim Entwurf der notwendigen Gehäuse, bei denen sie vorher nur auf ihr ingenieurmäßiges Empfinden angewiesen waren. Außerdem waren die neuen Formen für die Fertigung leichter umzusetzen und sehr nützlich für die ständige Verbesserung unserer Produktqualität (Abb. 40).

 

Fritz verschrieb sich voll und ganz der Zusammenarbeit mit Hans Gugelot und Otl Aicher. Er war von den Möglichkeiten, die die "Ulmer" boten, fasziniert und machte es sich zur Aufgabe, zwischen unseren Entwicklern und den "Ulmern", zu denen auch Hans G. Conrad, Herbert Lindinger und der Gugelot-Schüler Helmut Müller-Kühn gehörten, enge und freundschaftliche Kontakte zu knüpfen und förderte die Zusammenarbeit, wo immer er konnte (Abb. 41 und 42). Es war für uns alle ein aufregender Lernprozess, bei dem Fritz nicht nur vorbildlich führte und humorvolle Überzeugungsarbeit leistete, sondern auch in mühseliger, täglicher Kleinarbeit auf kleinste Details achtete. Wir brauchten viel Geduld und guten Willen, um Konzepte und Produkte durchzusetzen, die eigentlich in einem mittelständischen Betrieb kaum durchsetzbar waren. Und trotz Termindrucks kam bei allen Beteiligten Begeisterung auf. Fritz konnte Menschen zusammenführen, überzeugen, Misstrauen abbauen und zeigen, wozu echte Zusammenarbeit in der Lage ist (Abb. 43). Aus seiner Welt der Kunst und des Theaters brachte er Farbe in unser Spiel: Originalität, Geschmack, Esprit, Geduld, Leichtigkeit und sein Gespür für Ästhetik. Eigenschaften, die man in der nüchternen Welt der Industrie kaum findet, mit denen er aber unsere Unternehmenskultur nachhaltig beeinflusste.

 

Die Düsseldorfer Ausstellung 1955 markierte den Anfang einer neuen Gestaltung unserer Geräte, und schon bald darauf ging es darum, unser Rundfunkprogramm mit einer weiteren modernen Linie zu ergänzen. Diese Aufgabe übernahm Herbert Hirche, mit dem Erwin Ende 1955 mit Hilfe unseres Personalberaters Dieter G. Mundas Kontakt aufgenommen hatte (Abb. 44). 11) Herbert Hirche gestaltete für uns ab 1956 eine sehr ansprechende Linie moderner Musikschränke und Fernsehgeräte und leistete darüber hinaus wichtige Beiträge für unsere gesamte Gestaltungsarbeit und das Braun-Design (Abb. 45).

 

Besonders in der unteren Preisklasse fehlte 1956 aber noch ein kleiner Empfänger mit eingebautem Plattenspieler. Diesmal sollten die Modelle dafür im eigenen Haus gebaut werden – unsere Schreinereien und Werkstätten hatten Erfahrung im Musterbau. Dieter Rams, 1955 als Innenarchitekt eingestellt, wurde mit der Gestaltung beauftragt. Die Geschichte der Entwicklung des 'SK 4' und der Kontroversen um die Urheberschaft ist bekannt. Schließlich bat Fritz Hans Gugelot um Hilfe, und so bekam der 'SK 4' Ende 1956 ein original Ulmer Metallgehäuse und den Plattenspieler 'PC 3', den Wilhelm Wagenfeld und ich entwickelt hatten (Abb. 37). Fritz hatte darauf gedrängt eine eigene Gestaltungsabteilung einzurichten und bald entstand unter seiner Leitung als Gestaltungsbeauftragter mit Dieter Rams und Gerd A. Müller eine noch sehr bescheidene Werkstatt im eigenen Haus. Techniker und Gestalter konnten so enger zusammenarbeiten, als dies mit der Ulmer Hochschule angesichts der Entfernung und der damals schlechten Kommunikationsmittel möglich war. Und im Gegensatz zu freien Gestaltern, die um jeden neuen Auftrag bangen müssen und Kosten und Risiko tragen, hatten unsere Designer ideale Arbeitsbedingungen mit gesichertem Einkommen und den hervorragenden Rahmenbedingungen, die unser Betrieb zu bieten hatte.

 

Zeilen, die Fritz Eichler an Wilhelm Wagenfeld schrieb, lassen spüren, wie wichtig er die Zusammenarbeit zwischen Technikern und Gestaltern einschätzte:

„Der Weg, der zu diesen neuen Geräten führte, ist gleichzeitig der Weg eines immer enger zusammenwachsenden Verhältnisses von Technik und Produktgestaltung. Dieses Verhältnis ist, wie Sie ja aus Erfahrung wissen, ein Problem, das selbst bei sonst günstigen Voraussetzungen oft die besten Absichten zunichte machen kann. Es ist diffizil und schwierig, weil es von Natur aus ein »schizophrenes Problem« ist, das immer entsteht, wenn zwei (oder mehrere) Menschen schöpferisch an einer Aufgabe arbeiten und von verschiedenen Ausgangspunkten her zu einer gemeinsamen Lösung kommen sollen. Gerade bei technisch komplizierten Geräten können sich beide die Arbeit und das Leben schwer machen: der eine, indem er starr auf einer einmal gefundenen konstruktiven Lösung beharrt und sie gegen alle neuen Ideen und berechtigten Forderungen mit dem entwaffnenden Argument abschirmt: »das geht technisch nicht«; der andere, indem er sich in rein formale Wunschvorstellungen verrennt und dann Forderungen stellt, welche die technischen Gegebenheiten und Möglichkeiten nicht berücksichtigen und die dann wirklich »technisch nicht gehen«. Aber auch bei gegenseitiger Bereitschaft bietet dieses Stück Abenteuer, das jede komplizierte technische Entwicklung darstellt, allein im Sachlichen genug nicht vorausberechenbare Schwierigkeiten und Überraschungen, welche die oft schon weit gediehenen Arbeitsergebnisse des Produktgestalters zunichte machen können und dann zu Reibereien führen. Hinzu kommt die menschliche Seite.

 

Gerade der Entwicklungstechniker ist über seine rein fachliche Leistung hinaus an dem Produkt interessiert. Er betrachtet es als sein Kind und Eigentum, das er nicht gern, schon gar nicht mit einem Außenstehenden, teilen möchte. Er möchte, dass es Erfolg hat und möchte, was er als Voraussetzung dafür ansieht, dass es »schön« ist. Schön ist das, was ihm gefällt, was seinem Geschmack entspricht. Dass der Geschmack des Produktgestalters oft ein grundsätzlich anderer ist, ist nur allzu nahe liegend. Persönliche menschliche Anerkennung und Achtung sind notwendig, wenn in dem gemeinsamen Spiel etwas Gutes herauskommen soll. Oft spielen dabei rein emotionale Vorgänge, wie Sympathie und Antipathie, eine größere Rolle als die sachliche Beurteilung von Begabung und Können." 12)

 

Fritz konnte entzückende Bilder malen. Als Modellbauer, der mit Werkzeugen und Maschinen umgeht, eignete er sich weniger – aber darauf kam es ja auch nicht an. Er erkannte wie Erwin und ich den enormen Wert eines unverwechselbaren Gesichts für Braun und übernahm mit uns die geistige Führung unserer Gestaltungsarbeit mit dem erklärten Ziel, die Identität unseres Unternehmens zu festigen und sie mit unseren Produkten und unserem Auftreten in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen (Abb. 46).

 

Die Formgestaltung hatte Fritz inzwischen ausbauen lassen. Unter seiner Führung wurde Dieter Rams ihr Abteilungsleiter und konzentrierte sich in Arbeitsteilung mit Gerd A. Müller mehr auf den Rundfunk- und Phonobereich. Gerd A. Müller, der es verstand mit Gips zu modellieren, nahm sich der Gestaltung der Elektrogeräte an. Er leistete einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung unserer erfolgreichen Küchenmaschinen und Rasierer (Abb. 47). Ich schrieb vor Jahren dazu in einem Buch über die Entwicklung unserer Rasierer:

 

Damit bei aller Hektik unser Rasierer nicht zu kurz kam, ging Bodo Fütterer jetzt an die Entwicklung eines neuen Modells, das er gründlich und mit viel Geschick durcharbeitete. Es sollte dann 'SM 3' heißen (Abb. 48). Gerd A. Müller unterzog das dickbauchige Gehäuse des 'combi' einer Schlankheitskur. Fritz und mir lag das neue Gerät sehr am Herzen und weil die Formgestaltung damals noch über keinen ausreichenden Maschinenpark verfügte, hatten Gerd A. Müllers Modelle nicht die Präzision, die sie zu einer vernünftigen Beurteilung brauchten. Wir trafen uns daraufhin oft mit ihm an einer Kopierfräsmaschine im Werkzeugbau, wo wir die komplizierten Radien, die Bodo Fütterer inzwischen konstruiert hatte, auf einen Kunststoffblock übertrugen. So entstand in enger Zusammenarbeit zwischen Konstrukteur und Formgestalter die Form des 'SM 3', der später die Grundlage für unseren berühmten 'sixtant' werden sollte. 13) Es war diese Zusammenarbeit, die wir immer anstrebten, direkt am Objekt, mit Gefühl für Material, Farbe und Verarbeitung und vor allem im offenen Meinungsaustausch.

 

1959 konnten wir Reinhold Weiss als weiteren Designer für unsere Gestaltungsabteilung gewinnen (Abb. 49). Als Absolvent der Ulmer Hochschule brachte er deren Methoden und Vorstellungen in unsere Gestaltungsarbeit ein. Er arbeitete sehr selbständig an den Elektrogeräten. Hervorragende Entwürfe wie zum Beispiel der Tischlüfter 'HL 1', der Toaster 'HT 1' sowie Kaffeemühlen und Wasserkocher stammen von ihm und tragen seine Handschrift als Designer (Abb. 50 bis 52). Beim Toaster verwendete Reinhold Weiss erstmals unsere späteren Leitfarben Schwarz und Silber.

 

Auch die Grafikgestaltung mit Wolfgang Schmittel als Abteilungsleiter unterstand Fritz Eichler (Abb. 53). Otl Aicher hatte neue Schriften und Systeme vorgeschlagen, die das gesamte Erscheinungsbild von Braun entstaubten, es transparent und deutlich machten (Abb. 54). Vom Verpackungskarton über Drucksachen bis hin zum Werbeaufsteller im Schaufenster – viele Dinge, die oft mehr wahrgenommen werden als das eigentliche Produkt – zeigten Modernität und Anspruch (Abb. 55). Diese verbale und visuelle Gestaltung des Erscheinungsbildes von Braun baute dann Wolfgang Schmittel konsequent und sehr erfolgreich weiter aus (Abb. 56). Parallel entwarfen Otl Aicher und Hans G. Conrad einen viel beachteten Messepavillon für das Frankfurter Messegelände und einen Informationswagen für Braun-Produkte (Abb. 57 bis 60).

 

Fritz schrieb weiter in seinem Brief an Wilhelm Wagenfeld über unser Geräteprogramm:

 

Mit den Erfahrungen, die wir bei den Radiogeräten gemacht hatten, gingen wir daran, unser gesamtes Geräteprogramm neu zu gestalten. Es war ein langer, erfahrungsreicher Weg, der zu den Produkten führte, die Sie im nebenstehenden Familienbild des heutigen Programms sehen können. Die Realisation dieser Geräte setzte eine eigene Abteilung für Produktgestaltung voraus. Das Bild kann in seiner etwas wahllosen Gruppierung deutlich machen, wie vielfältig und verschiedenartig die Aufgaben sind, die sie zu lösen hat. Verschiedenartig in der Aufgabenstellung, in den Techniken und Materialien, verschiedenartig auch durch die Marktsituation der einzelnen Geräte, die die Produktgestaltung oft mehr bestimmen kann, als einem lieb ist.

 

Eine Familienähnlichkeit der einzelnen Geräte ist sicher nicht zu verleugnen. Ist sie zufällig oder ist sie bewusster Stil? In Industrie und Handel wird des Öfteren von einem Braun-Stil gesprochen. Gibt es ihn überhaupt? In einer umfangreichen und sorgfältigen Untersuchung hat Richard Moss in der Zeitschrift »Industrial Design« an Hand unserer Geräte versucht, den »Braun-Stil« zu analysieren. Er schreibt: »Man hat den Eindruck, dass jedes Braun-Erzeugnis ganz streng im Einklang mit gewissen Regeln gestaltet ist – nicht etwa nach den Regeln eines Normenbuches, sondern gemäß den Gesetzen einer Gestaltungsethik. Jeder Entwurf aus dem Hause Braun scheint drei allgemein gültigen Gesetzen zu unterliegen: dem Gesetz der Ordnung, dem Gesetz der Harmonie und dem Gesetz der Sparsamkeit«, wobei er unter Sparsamkeit die Schaffung einer harmonischen Form mit den geringsten und einfachsten Mitteln versteht. Drei Gesetze, die wir als Grundlage für unsere Produktgestaltung gern bejahen. »Gestaltungsethik«? Ein zu großartiges und anspruchsvolles Wort für eine natürliche Sache." 14)

 

Wir waren auf einem guten Weg, hatten mit unseren Geräten in vielen Wohnungen der Interbau 1957 in Berlin Aufmerksamkeit geweckt, auf der XI. Mailänder Triennale 1957 und der Weltausstellung 1958 in Brüssel Anerkennung gefunden (Abb. 61 bis 64). Ganze Serien neuer Produkte wurden entwickelt, die Belegschaft vergrößert und neue Produktionsstätten gebaut. Der Wachstumsprozess unseres Unternehmens hatte sich so beschleunigt, dass unser Familienbetrieb an seine Grenzen stieß. Wir beschlossen deshalb 1961, unsere offene Handelsgesellschaft in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln (Abb. 65). Erwin hatte die komplizierte Vorarbeit geleistet. Es gab nun einen Vorstand und die üblichen AG-Regeln. Fritz Eichler war weiterhin Direktor für die Gestaltung, Dieter Rams und Wolfgang Schmittel blieben seine Abteilungsleiter. Im März 1961 überreichte uns der italienische Botschafter in Anwesenheit von Vizekanzler Ludwig Erhard den "Goldenen Zirkel", diese so berühmte Auszeichnung für modernes Design (Abb. 66). Und die stürmische Entwicklung ging weiter, zahlreiche neue Produkte wurden in den folgenden Jahren erdacht, entwickelt, konstruiert, gestaltet, produziert, beworben und verkauft (Abb. 67). 15) Sie sind in vielen Publikationen hinreichend beschrieben. Leider wurde vieles bei Braun unpersönlicher. Eine intensive Befassung mit unterschiedlichen Details war kaum noch möglich. Aber da war Fritz. Frei von den üblichen organisatorischen Problemen konnte er sich ganz der Leitung der Gestaltung widmen.

 

1967 entschlossen wir uns, die Führung an Gillette abzugeben. Das weitere Schicksal unseres Designs lag damit in den Händen von Fritz, der weiter im Unternehmen blieb. Von den neuen Aktionären hoch geschätzt, berief man ihn als Vorstand für Gestaltung und übertrug ihm die Verantwortung für das gesamte Erscheinungsbild von Braun. Fritz wusste, dass es um den Fortbestand und die Weiterentwicklung unseres Designs unter veränderten Bedingungen ging und widmete in den folgenden Jahren seine ganze Kraft und Kreativität dieser Aufgabe. Es gelang ihm immer wieder, den neuen Eignern den Wert des Braun-Designs zu verdeutlichen. Vielleicht kann man seine Vorstandszeit von 1967 bis 1973 als seine produktivste Phase bezeichnen.

 

Schon bald rief Fritz Eichler den Braun-Preis ins Leben, so wie er es mit Erwin noch kurz vor unserem Ausscheiden verabredet hatte. Der Preis sollte junge Designer weltweit ansprechen (Abb. 68). Für Fritz war er eine ideale Plattform für die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Braun-Design. Die Preisverleihungen boten ihm immer wieder Gelegenheit, die Grundlagen unserer Gestaltungsarbeit darzulegen. Fritz ging es nicht darum, den Juror zu spielen, sondern es kam ihm darauf an, jungen Gestaltern Anregungen und Einblicke in unsere Arbeitsweise zu vermitteln. Er hat in diesem Zusammenhang Vorträge gehalten, sehr viel geschrieben und so im Laufe der Zeit die Philosophie unserer Gestaltungsarbeit weiterentwickelt und formuliert. Obwohl jeglicher Ideologie abhold, scheute er sich nicht, die nachfolgenden Leitsätze zum Braun- Design aufzustellen. Sie sind bis heute gültig und geben Aufschluss von dem soliden Fundament, das unter seiner Führung in jahrelanger Gemeinschaftsarbeit entstanden ist.

 

Das Braun Design: Die Voraussetzung für gutes Design ist ein klares Unternehmenskonzept, in dem Design als Aufgabe des gesamten Unternehmens definiert ist.

 

Die Funktion: Der Gebrauch ist für uns Ausgangspunkt und Ziel jeder Gestaltung.

 

Die Ordnung: Jede Gestaltung ist für uns erst brauchbar, wenn sie eine durchdachte Ordnung hat.

 

Die Ergonomie: Formgestaltung wird für Menschen gemacht und muss auf die Kräfte, die Maße, die Sinne des Menschen abgestimmt sein.

 

Die Einfachheit: Gutes Design heißt für uns: Möglichst wenig Design.

 

Die Ausgewogenheit: Unser Design bringt alle einzelnen Elemente in die richtige Proportion.

 

Die Sorgfalt: Für Braun Gestalter gibt es keine Nebensächlichkeiten.

 

Der Ausdruck: Gutes Design ist Ausdruck hoher Qualität, fortschrittlicher Technik und neuartiger Gebrauchseigenschaften.

 

Die Innovation: Unser Design geht neue Wege, weil es sich an der Entwicklung der Technik und den Änderungen des Verhaltens der Menschen orientiert.

 

Die Zusammengehörigkeit: Braun-Design stellt die Dinge in den Zusammenhang eines sinnvollen Programms.

 

Diese am Ende seiner Vorstandstätigkeit 1973 aufgestellten Leitsätze sind als Fazit seines Wirkens und gleichsam als sein Vermächtnis im Geschäftsbericht 1972/73 dokumentiert. 16) Einen Alleinanspruch auf "gutes Design" erhob er damit nicht – das hätte er für unangemessen und überheblich gehalten.

 

1973 wechselte Fritz vom Vorstand in den Aufsichtsrat. Achtzehn Jahre Verantwortung für die gesamte Gestaltungsarbeit von Braun waren ihm genug. Dieter Rams wurde sein Nachfolger und verantwortete dann von 1973 bis 1995 – gegen viele Widerstände und Anfechtungen – die Designarbeit und entwickelte sie sehr erfolgreich weiter.

 

Fritz starb am 17. August 1991. Bis zu seinem Tod vertrat er als Aufsichtsrat beharrlich die Belange des Braun-Designs und die Arbeit von Dieter Rams. Mit schwerem Herzen bestatteten wir seine Urne anonym, er hat es so gewollt. Seither wird er immer mehr vergessen. Für ein Gerangel, wer denn nun am meisten für das Braun-Design geleistet hat, hätte er kein Verständnis gehabt. Er wusste, dass das Braun-Design nur im Team entstehen konnte, durch die enge, freundschaftliche Zusammenarbeit einer Gruppe motivierter Menschen, in der jeder den anderen gelten ließ, und dass niemand die Urheberschaft für das Braun-Design allein für sich beanspruchen kann (Abb. 69).

 

Und er wusste auch um die Gunst des Schicksals, das Menschen unterschiedlichster Denkweise und Fähigkeiten zur rechten Zeit am rechten Platz als Freunde zusammenführte, zur Arbeit an einer gemeinsamen Sache.

 

 

 

Quelle:
Braun, A.: Wie das Braun-Design entstand. In: Jatzke-Wigand, H.; Klatt, J.: Wie das Braun-Design entstand. In: Design+Design zero, Hamburg Dezember 2011, 1. Auflage, 4-47

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