Hartmut Jatzke-Wigand
 
Dieter Rams: Das Braun-Design und seine Väter

Dieter Rams

Das Braun-Design und seine Väter. Brief an Erwin Braun zum 70. Geburtstag


Als ich Ihnen zum ersten Mal begegnete, waren Sie kaum älter als meine Studenten heute. Aber weil ich selber noch viel jünger war, weil Sie das Unternehmen leiteten, das mich anstellte, weil Sie weit reichende Pläne hatten und Entscheidungen trafen, die viele und vieles in Bewegung setzten, blieb ich Ihnen gegenüber in der Distanz des Respekts – damals und, wenn ich genau hinschaue, bis heute.

 

Im August werden Sie 70. Ein Menschenalter ist vergangen seit diesen intensiven Aufbruchjahren Mitte der 50er, in denen Gestalt annahm, was man heute recht pauschal Braun- Design nennt. Was ist Braun-Design? Wer sind seine Väter? Was ist Ihr eigener Anteil an der Leistung des Unternehmens bei der Gestaltung von Produkten?

 

Eigentlich widerstrebt es mir, zurückzublicken und 'Braun-Design' als eine historische, abgeschlossene Erscheinung zu sehen, reif fürs Lexikon.

 

Sicher ist den vielen hundert Produkten, die seit 1954 für und von Braun gestaltet wurden, mehr gemeinsam als das Markenzeichen. Sie haben eine Gleichartigkeit, eine Verwandtschaft, die es möglich machen, von 'Braun- Design' zu sprechen – und nicht nur vom Design eines einzelnen HiFi-Gerätes, eines Rasierers, einer Filmkamera, einer Küchenmaschine oder eines Haartrockners.

 

Dennoch kann man gerade bei Braun überhaupt nicht davon sprechen, dass hier ein einfaches, in einigen anfänglichen Mustern festgeschriebenes 'Design-Rezept' mehr oder weniger mechanisch auf immer neue Produkte appliziert worden sei, eine Gestaltungsweise, die sich wie ein technisches Patent beschreiben ließe und einen oder mehrere Erfinder hat. Nein, für mich ist 'Braun-Design' keine Lösung, sondern eher der Begriff für die Grundhaltung, Design als Aufgabe zu sehen, nämlich die Aufgabe, bei jedem Produkt wieder von neuem nach einer guten Lösung zu suchen. Und 'gut' dabei zu verstehen als gut für den Verwender des Produktes und nicht primär für die Kasse des Herstellers.

 

Die eigentliche unternehmerische und designerische Leistung sehe ich darin, zu dieser Grundhaltung gekommen zu sein, sie immer wieder in konkreten Entwürfen verwirklicht und über so viele Jahre hinweg durchgehalten zu haben. Das war ein Prozess. Und an diesem Prozess waren viele beteiligt. Zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Rollen, mit unterschiedlicher Wirkung. In der Geschichte der menschlichen Kultur gibt es keine Entstehung aus dem Nichts. Alles Neue hat Vorläufer und Wegbereiter, braucht förderliche Bedingungen, um zu beginnen und zu wachsen.

 

Vor Jahren haben Sie darauf hingewiesen, dass schon Ihr Vater wichtige Anstöße gegeben und Voraussetzungen geschaffen hat. Ganz sicher spielte Wilhelm Wagenfeld eine Schlüsselrolle. Sie haben oft von dem Vortrag Wagenfelds gesprochen, den Sie 1954 in Darmstadt hörten und der für Sie richtungweisend war.

 

Sie haben ebenso oft betont, wie entscheidend die Leistung der Ulmer war – die von Otl Aicher als eher gedanklicher Anreger und die von Hans Gugelot als Architekt und Designer, der die ersten erfolgreichen Braun Produkte aus der neuen, auf die Funktion und den Verwender orientierten Haltung heraus gestaltete.

 

In ganz anderer Rolle und mit anderer Wirkung war Fritz Eichler an der Entwicklung des Braun-Design beteiligt – als, wie er es selbst gelegentlich bezeichnet hat, 'Hebamme', als Gesprächspartner, der andere anregt, unterstützt und mitbestärkt. Auch die etwa zehn Designer, die mit und nach Wilhelm Wagenfeld und Hans Gugelot Braun Geräte gestaltet haben, von Herbert Hirche bis hin zu den Jungen, die 1990 und 1991 in die Braun Design-Abteilung eingetreten sind, haben ihren eigenen und ganz konkreten Anteil an dieser Gesamtleistung.

 

Ein aufmerksamer Beobachter wird bemerken, dass ein Name fehlt, der Ihre! Tatsächlich wird Ihre Rolle in den bisherigen Rückblicken auf Entstehung und Entwicklung des Braun Designs meist recht knapp dargestellt. Das entspricht Ihrer Neigung, die eigene Leistung herunterzuspielen. Wenn ich sage, dass ich Sie für entscheidend halte, dann ist das nicht als Geburtstags-Laudatio gemeint, sondern der Versuch einer wirklichkeitsgerechteren Darstellung. Sie spielten die Schlüsselrolle in dem Sinne, dass kein einziger der anderen Beteiligten ohne Sie in derselben Weise zur Wirkung gekommen wäre und schon gar nicht alle im Zusammenspiel miteinander.

 

Was Wagenfeld zu sagen hatte, konnten damals viele Unternehmer hören. Mit einigen hat er sogar lange und intensiv gearbeitet. Doch wo ist die bedeutende, anhaltende, lebendige Design-Leistung dieser Unternehmen heute? Was Wagenfeld 1954 so wirksam werden ließ, war der junge Unternehmer, der im Auditorium saß, die Anregungen aufnahm und in die Tat umsetzte.

 

Dasselbe gilt für alle anderen Anreger, Mitdenker, Gestalter, die für und bei Braun gearbeitet haben – mich selbst natürlich eingeschlossen. Sie hatten die Vision anderer Produkte, einer anderen Qualität, einer anderen Produktgestalt, eines anderen Unternehmens. Sie haben gezielt und intensiv nach Menschen gesucht, die Ihre Vorstellungen verwirklichen konnten. Sie haben den Gestaltern Ihre Ideen vermittelt, sie motiviert, ihnen Freiräume gegeben, sich kontinuierlich und im Detail mit den Entwürfen auseinandergesetzt. Sie haben mit Elan die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass konstruktiv-gestalterische Innovationen realisiert werden konnten. Sie haben das große Risiko auf sich genommen und sehr lange ausgehalten, mit Produkten auf den Markt zu gehen, die sich von allen anderen abhoben – und mehr noch: die aus einer deutlich anderen Haltung heraus gestaltet waren. Sie haben den Kurs mit großer Zähigkeit gehalten. Antonio Citterio schreibt an Vitras Rolf Fehlbaum: "Als Designer bin ich von der grundlegenden Wichtigkeit des Klienten überzeugt, sowohl seiner Funktion als auch seiner Person. Alle Architektur und alle Produkte haben eine Mutter und einen Vater: Den Architekten oder Designer und seinen Klienten."

 

Warum ist das Design so vieler Unternehmen damals wie heute ein Trauerspiel? Inzwischen ist doch offenkundig, dass gute Gestaltung auch wirtschaftlich erfolgreich ist. Vitra und Erco sind inzwischen dafür weitere gute Beispiele. So viele Unternehmen hatten und haben die Chance, hier leistungsfähig zu werden. Es gibt so viele gute Vorhaben, bemühte Anfänge. Und es gibt ebensoviel zaghaftes Abbrechen, Inkonsequenz, Mittelmaß und Konfusion. Wer als Designer die Realität kennt, weiß, was der Faktor ist, der den Ausschlag gibt, 1954 ebenso wie 1991: die Unternehmensführung, ihre Einsicht, ihre Haltung, ihre Fähigkeiten, ihre konkrete Leistung. Dabei sollte das externe Ziel sein, das interne darüber wirksam zu erreichen.

 

Aus der Entrücktheit der Chefetage ein paar vage und abstrakte Absichtserklärungen abzugeben in der Art 'Wir streben eine exzellente Gestaltung unserer Produkte an', das war und ist in der Regel leider immer noch alles, was Unternehmensleitungen für das Design tun. Es ist so wirkungsvoll wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Ihr Beispiel zeigt, welche unternehmerische Leistung nötig ist. Ihr Involvieren war von grundsätzlich anderer Art. Wenn man von einem der vielen Beteiligten sagen kann, dass er der Vater des Braun Design ist, dann sicher mit dem meisten Recht von Ihnen.

 

Aber – wie es so geht in der Welt – die Kinder werden erwachsen, sie lösen sich mit Respekt von den Vätern, sie müssen und werden aus eigener Kraft leben und Neues hinzufügen.

 

 

Quelle:
Rams, D.: Das Braun-Design und seine Väter. In: Jatzke-Wigand, H.; Klatt, J.: Wie das Braun-Design entstand. In: Design+Design zero, Hamburg Dezember 2011, 1. Auflage, 88-92

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